Freiburg - Eisbären brauchen fettreiche Nahrung, um die Kälte der Arktis zu überstehen. Ihre Beute erlegen sie meistens auf dem Packeis – doch die Eisdecke schrumpft. Welche Auswirkungen es hat, wenn Eisbären gezwungen sind, neue Nahrungsquellen zu erschließen, hat sich nun eine internationale Forschergruppe genauer angesehen. Es zeigte sich, dass offenbar Vogelkolonien von Gänsen und Enten den Raubtieren als Ersatzbeute dienen. Das Team hat die Entwicklung sowohl an der Westküste Spitzbergens/Norwegen als auch an der Ostküste Grönlands beobachtet. Diese Parallelen belegen, dass die Wechsel im Speiseplan tatsächlich mit dem Klimawandel in Verbindung stehen dürfte.
"Die Packeisbedeckung schrumpft kontinuierlich – dementsprechend sind die an das Packeis gebundenen Tiergemeinschaften betroffen", erklärt Benoît Sittler von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Gemeinsam mit seinen Kollegen beschreibt er den Wandel in den Wanderbewegungen der Eisbären als Folge der veränderten Eisbedingungen. Auffällig ist, dass Eisbären in den vergangenen 15 Jahren im Schnitt 30 Tage früher in Spitzbergen und Ostgrönland ankommen, weil sie immer weniger Zugang zu Packeisflächen haben. Forscher schätzen, dass es im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren etwa 30 Prozent weniger Packeis gibt, wobei in den vergangenen zehn Jahren eine Beschleunigung des Trends zu beobachten ist: In den Sommermonaten schmilzt das Eis schneller, im Herbst bildet es sich später.
Fast alle Eier gefressen
Als Ersatznahrung suchen die Eisbären Brutkolonien von Gänsen und Enten an Land auf, vor allem auf den küstennahen kleinen Inseln wie entlang der Insel Traill im Nordosten Grönlands. In der Regel ist es für Bären leicht, an die nahrhaften Eier in den Nestern zu kommen: Die Vögel fliehen und lassen ihre Brut ungeschützt zurück. Beobachtungen aus Spitzbergen zeigen, dass Bären, die eine Brutkolonie entdeckt haben, wahrscheinlich im darauffolgenden Jahr zurückkehren werden. Dabei erscheinen sie sogar noch früher am Standort, um ihre Ausbeute zu verbessern. Infolgedessen schrumpft der Bruterfolg bei den Vögeln: An manchen Standorten verzehrten die Eisbären bis zu 90 Prozent der Eier, vermuten die Forscher. Diese Schätzungen basieren auf der Aufenthaltsdauer der Eisbären in einem Nestgebiet.
Das Team will nun erforschen, welche Auswirkungen es auf die Eisbären hat, wenn sie auf Vogeleier als Ersatznahrung ausweichen. Zudem wollen die Biologinnen und Biologen untersuchen, ob der Fortbestand von Vogelpopulationen auf Dauer gesichert ist, wenn die Eisbären immer mehr an Land jagen. "Es ist denkbar, dass die Vögel mit der Zeit auf Inseln ausweichen, die für Eisbären nicht zugänglich sind", vermutet Sittler. "Doch viele Optionen für Orte mit guten Brutbedingungen haben sie nicht." (red, derStandard.at, 5.4.2015)