Dem "Ja" - hier in der Österreichischen Gebärdensprache - zur Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen, fügt Pädagogikprofessor Bernd Ahrbeck, der an der Humboldt-Uni Berlin lehrt, ein kritisches "aber" hinzu.

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Der Hamburger Erziehungswissenschafter Bernd Ahrbeck warnt vor einer "Dekategorisierung" in der Inklusionsdebatte: "Wir kriegen keine neue Humanität, indem wir Dinge nicht mehr so bezeichnen, wie sie im Leben vorkommen."

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STANDARD: Sie gelten als Inklusionskritiker. Was stört Sie an Inklusion?

Ahrbeck: Am Grundgedanken der Inklusion absolut nichts. Es wird auch kaum jemanden geben, der ihm widerspricht. Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Inklusion in vielen Ländern zu einem zentralen Thema geworden. Die Konvention soll dazu dienen, dass die Lebenssituation von behinderten Menschen umfassend gestärkt wird. Dazu gehören Partizipation und Teilhabe in unterschiedlichen Lebensfeldern. Auch soll die schulische und außerschulische Förderung auf möglichst hohem Niveau erfolgen. Der Förderaspekt darf also keinesfalls übersehen werden. An den konkreten Zielvorstellungen und der praktischen Umsetzung scheiden sich aber die Geister. Denn die sind mitunter schon sehr idealistisch und in vielen Fällen realitätsfern.

STANDARD: Können Sie zu hehre Zielvorstellungen konkretisieren?

Ahrbeck: Dass Veränderungen notwendig und wünschenswert sind, steht außer Frage. Häufig dominieren aber unerfüllbar hohe moralische Ansprüche und ein unreflektierter Aktionismus. Nach dem Motto "Wir müssen jetzt um jeden Preis etwas in Gang setzen", ohne dass die Folgen bedacht werden oder geklärt ist, was Inklusion eigentlich bedeutet.

STANDARD: Wie würden Sie Inklusion in der Schule definieren?

Ahrbeck: Das weltweite Ziel ist: Jedes behinderte Kind soll die gleichen Rechte haben wie jedes nichtbehinderte. Doch das steht bereits in der österreichischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Eine gemeinsame Beschulung behinderter und nichtbehinderter Kinder stellt ganz sicher einen hohen Wert dar. Die Erwartungen, die sich an sie knüpfen, sind aber ganz erheblich und mitunter überzogen. Von Inklusion sollen alle Kinder profitieren, Hochbegabte und weniger Begabte, stark und schwach Behinderte. Das ist nicht immer möglich: Eine gemeinsame Beschulung darf deshalb nicht bedingungslos erfolgen, nicht unter allen Umständen und schon gar nicht auf Kosten der betroffenen Kinder. Inklusion kann ihre Ziele auch verfehlen.

STANDARD: In welcher Form kann gemeinsame Beschulung schaden?

Ahrbeck: Behinderung soll als ein Teil der menschlichen Vielfalt anerkannt werden, so heißt es. Ebenso wie die soziale, ethnische und nationale Herkunft, religiöse Überzeugungen oder sexuelle Ausrichtungen. Dabei wird jedoch übersehen, dass es bei Behinderung nicht nur um Gemeinsamkeit und soziale Akzeptanz geht. Behinderung bedeutet auch, dass etwas verändert werden soll und ein spezieller Förderbedarf besteht. Dann stellt sich die Frage, an welchem Ort sich diese Aufgabe am besten erfüllen lässt. Nicht in jedem Fall ist der inklusive Weg der beste. Wir haben in Deutschland Sprachheilschulen oder -klassen. Wenn sprachliche Behinderungen dort in der Grundschule besser überwunden werden können als anderswo, dann sehe ich keinen Grund dafür, diese Beschulungsform aufzulösen. Eine gemeinsame Beschulung kann auch dann schaden, wenn Schüler über die Maßen an den Rand gedrängt werden, sich permanent überfordert und unwohl fühlen.

STANDARD: Sie interpretieren Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach die Vertragsstaaten "ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen gewährleisten", nicht so, dass er die Abschaffung der Sonderschule meint?

Ahrbeck: Genau. Das ist weder juristisch zwingend, noch lässt es sich aus dem Sinngehalt der Konvention entnehmen. Es geht vielmehr in einer ganz umfassenden Weise um das Kindeswohl. Eine Gemeinsamkeit bringt für viele, aber nicht für alle Kinder Vorteile. Kinder, die auf die Gebärdensprache angewiesen sind, brauchen einen Ort, an dem sie unbeschwert kommunizieren können. Das können sie nur, wenn sie untereinander sind. Sonst vereinsamen sie vollkommen. Darum bin ich bei einem totalen Inklusionsbegehren, das jede Art spezieller Einrichtung abschaffen möchte, skeptisch. Es sollte weiter Wahlfreiheiten geben. Nicht für jeden ist das Gleiche gleich gut.

STANDARD: Italien hat 1977 die Sonderschulen abgeschafft und seither ein integratives Schulsystem für alle Kinder. Wieso sollte das in Deutschland und Österreich nicht gehen? Hat das auch mit der bildungspolitischen Tradition zu tun, dass in Ländern mit differenziertem Schulsystem die Idee von Inklusion schwerer zu integrieren ist?

Ahrbeck: Bei der deutschen Diskussion spielt die nationalsozialistische Vergangenheit sicher eine gewichtige Rolle. Es entsteht schnell der Verdacht, wir würden uns durch Differenzierung und Trennung erneut schuldig machen. Das ist ein gesellschaftliches Grundproblem, in vielen Lebensbereichen. Die skandinavischen Länder sind mit ihren Gemeinschaftsschulen sicher besser auf die Inklusion vorbereitet. Aber auch sie verzichten nicht auf spezielle Einrichtungen, wie das Beispiel Finnland zeigt. Nationale Bildungstraditionen müssen auch bei der Inklusion berücksichtigt werden. Das hat der Europarat ausdrücklich beschlossen.

STANDARD: Welche empirischen Daten gibt es darüber, ob behinderte Kinder in inklusiven Schulen bessere Leistungen erbringen?

Ahrbeck: Insgesamt ist die empirische Befundlage begrenzt. Die meisten Untersuchungen gibt es zu Schülern mit Lernbeeinträchtigungen, ohne dass sie ein einheitliches Bild ergeben. Einiges spricht dafür, dass sie sich kognitiv im inklusiven Kontext besser entfalten. Sie lernen dort mehr, weil sie mit leistungsstärkeren Kindern zusammen sind. Und das allgemeine Anregungsmilieu ist höher. An Schulen für Lernbeeinträchtigte hingegen wird den Kindern oft zu wenig zugetraut, die Leistungsanforderungen sind geringer, als sie sein müssten. Das ist zu kritisieren. Es wurde aber auch festgestellt, dass diese Schüler in integrativen oder inklusiven Klassen häufig eine soziale Randposition einnehmen und psychisch belastet sind. Das muss man gegeneinander abwägen.

STANDARD: Wie können nichtbehinderte Kinder von einer gemeinsamen Beschulung profitieren?

Ahrbeck: Positiv ist, dass sie gemeinsame Erfahrungen machen. Behinderte und nichtbehinderte Kinder lernen sich kennen und erleben, wie sie miteinander umgehen können. Diese soziale Dimension ist ganz wichtig. Ob dazu die gesamte Schulzeit notwendig ist, das steht auf einem anderen Blatt. Im Grundschulbereich werden die Leistungsstärkeren auch nicht dadurch gefährdet, dass sie mit Leistungsschwächeren zusammen sind. In höheren Schulklassen wird es natürlich immer schwieriger, dass jedes Kind das bekommt, was es braucht.

STANDARD: Sie sind Experte für Verhaltensgestörtenpädagogik. Darf man das überhaupt so sagen – ein Kind ist "verhaltensgestört"?

Ahrbeck: Das darf man schon. Der Begriff Verhaltensstörung entstammt der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen. Die schulische Kategorie dazu heißt in Deutschland "Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung". Oft sind klinische und pädagogische Phänomene eng miteinander verwoben. Man sollte schon vorsichtig und taktvoll mit solchen Begriffen umgehen. Ich bin nur wahrlich nicht dafür, dass man einem Kind ständig sagt: Du bist verhaltensgestört oder psychisch krank, du bist lern- oder körperbehindert. Zu den Naivitäten der Inklusionsdebatte gehört es aber, anzunehmen, wir hätten einen humaneren Umgang, wenn wir diese Kategorien generell abschaffen würden. Eine Begriffsverleugnung führt auch zu einer Verleugnung in der Sache. Das Kind darf dann nicht mehr so gesehen werden, wie es wirklich ist.

STANDARD: Was lässt sich über "verhaltensgestörte" Kinder sagen? Gibt es Kinder, die nicht integrierbar sind – und sei es nur auf Zeit?

Ahrbeck: Internationale Forschungsbefunde verweisen darauf, dass etwa 0,5 bis ein Prozent aller Schüler temporär spezielle Gruppen brauchen, weil sie psychosozial schwer beeinträchtigt sind. Generell lässt sich so etwas nicht anhand von Behinderungskategorien festlegen. Es kommt immer auf den Einzelfall an. Der Satz "Inklusion ist unteilbar" ist insofern richtig, als für jeden Menschen die gleiche Rechtsgrundlage gilt. Das bedeutet aber nicht, dass auf jegliche institutionelle Differenzierung verzichtet werden muss. Grenzen des Gemeinsamen kann es bei schwer mehrfachbehinderten Kindern geben, die auf basale Stimulation angewiesen sind, nicht sitzen und nur unter äußersten Schwierigkeiten Kontakt zur Umwelt aufnehmen können. Da frage ich mich schon, ob es Sinn macht, sie in eine allgemeine Schule zu schicken.

STANDARD: Sie sagten einmal: "Wir müssen aufpassen, dass wir Behinderung nicht banalisieren." Was meinen Sie damit? So Sätze wie "Auf die eine oder andere Art sind wir doch alle irgendwie behindert"?

Ahrbeck: Ich halte den Satz "Behinderung gibt es nicht" für falsch. Er verleugnet die Realität. Es gibt nun einmal veritable Behinderungen. Menschen mit Behinderung wissen das genau, die sagen: Ich weiß doch, dass das so ist. Das könnt ihr mir doch nicht ausreden. Ich sitze im Rollstuhl, ich höre nicht, ich sehe nicht. Natürlich möchte niemand nur unter dem Aspekt seiner Behinderung gesehen werden. Das ist völlig klar. Wir kriegen aber keine neue Humanität, indem wir Dinge nicht mehr so bezeichnen, wie sie im Leben vorkommen. Solche Nivellierungsversuche haben letztlich schwerwiegende Folgen für die Förderung der Kinder. Behinderung soll normalisiert werden. Das klingt gut, führt in einem radikalen Inklusionsentwurf dazu, dass die Kinder mit ihrem speziellen Anliegen schlechter gesehen werden können. Das darf nicht sein.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 7.4.2015)