Die ungarische Öffentlichkeit und die Medien sind seit Wochen im Banne der undurchsichtigen Vorgänge nach dem Zusammenbruch der mit der Orbán-Regierung, vor allem mit dem Außenministerium, eng verbundenen Brokerfirma Quaestor. Man schätzt, dass zusammen mit anderen kleineren Pleiten in diesem Jahr rund 100.000 Sparer und Investoren betroffen sind. Die Firma hatte fiktive Obligationen im Wert von einer halben Milliarde Euro aufgelegt. Börsenexperten waren schon verblüfft, als die ungarische Nationalbank im November 2014 die Zeichnung von Wertpapieren mit einem völlig irrealen Zins von 6,5 bis sieben Prozent im Wert von 200 Mio. Euro genehmigt hatte.

Versagen von Finanzaufsicht und Ministerien

Kaum ein Tag vergeht ohne neue Enthüllungen über das totale Versagen der Finanzaufsicht und der betroffenen Ministerien mit widersprüchlichen Angaben sogar über den Zeitpunkt der direkten Intervention des Ministerpräsidenten, der die Regierungsstellen angewiesen hatte, ihre Einlagen von Quaestor abzuziehen. Auch der heute vielleicht engste Vertraute des Regierungschefs, der Bürgermeister seines Heimatorts, Lörinc Mészáros, ist verstrickt in Moskauer Geschäfte von Quaestor und einem inzwischen schon verhafteten ungarischen Diplomaten. Der einstige Gasinstallateur Mészáros, der innerhalb weniger Jahre mit einem Vermögen von rund 25 Millionen Euro zum 85-reichsten Ungarn aufrückte, gab kürzlich zu, dass er in seiner Steuererklärung drei Millionen Euro und eine Beteiligung an einer russischen Firma vergessen hätte.

An einer anderen Front tobt der Kampf gegen den bis zu seinem Bruch mit dem Studienfreund Orbán wichtigsten Fidesz-Oligarchen Lajos Simicska, dessen Firmen und Medien alle Regierungsaufträge verlieren. Das gilt auch für die von EU-Fonds finanzierten Großinvestitionen. Die neuen Nutznießer sind unter anderen das schnell expandierende Firmenimperium von Lörinc Mészáros und die Bauunternehmen des aufstrebenden jungen Geschäftsmannes István Tiborcz, Schwiegersohn des Ministerpräsidenten.

Abwendung von Fidesz

Der bekannte Wirtschaftspublizist László Lengyel meint, die Quaestor-Pleite könnte die "Hinrichtung des Regimes" bedeuten. Die Abwendung der Mehrheit der Wähler von Fidesz führte heuer zum Verlust der Zweidrittelmehrheit und zu Niederlagen bei diversen Zwischenwahlen. Bei der nächsten Nachwahl Ende der Woche rechnen Beobachter mit dem Sieg der rechtsextremen Jobbik-Partei oder der Koalition der linken Gruppen. Auch werden neue Protestdemonstrationen gegen die Verstrickung der Regierung in der Korruption geplant.

Trotzdem wäre es unklug, den baldigen Sturz der Regierung zu erwarten. Die Abwendung von Fidesz bedeutet keineswegs eine Zuwendung zur zersplitterten Opposition. Das Überleben des Regimes ist die Folge der von keinem innerparteilichen Gegner bedrohten Machtposition Orbáns, der auch durch den massiven Transfer aus Brüssel sowie durch Renten und Lohnerhöhungen geförderten Wirtschaftskonjunktur und vielleicht vor allem der unglaublichen Führungsschwäche jener diskreditierten linken Opposition, die bereits zweimal im Sumpf der eigenen Korruption versunken war. (PAUL LENDVAI, DER STANDARD, 7.4.2015)