Wien - Kinder haben immer wieder Angst vor der Dunkelheit, Teenager lernen sie lieben, und regelmäßig unter Kunstlicht arbeitende Stadtmenschen sind sogar froh, wenn sie nicht nur Licht, sondern auch Handy, TV und Laptop ausschalten können, kein Standby-Lämpchen an die dauerhafte Bereitschaft erinnert und keine Reklame oder Straßenleuchte das Schlafzimmer erleuchtet. Für diese Erkenntnis braucht man keine wissenschaftlichen Studien: Je reifer der Mensch, desto größer seine Sehnsucht nach einer Nacht, wie sie die Natur im Programm hätte.
Sie könnte so beschrieben werden: "Die Dunkelheit steigt von Osten her auf", schreibt Paul Bogard in seinem wunderbaren Buch "Die Nacht. Reise in eine verschwindende Welt" (Blessing-Verlag, 2014). Sie "ergießt sich über Land und Wasser, wenn die Sonne der Erde den Rücken zukehrt." In diesen Satz Bogards passt kein noch so kleines künstliches Licht: "Was wir Nacht nennen, ist die Zeit, in der wir in diesem Schatten gefangen sind."
Heller Nachthimmel
Doch wo finden Menschen noch diese Nacht, die sie für ihren Tag-Nacht-Rhythmus und für ihr persönliches Wohlbefinden bräuchten? Tatsache ist: in der modernen Stadt wohl nicht. Die durch Leuchtreklame, bestrahlte Bürohäuser oder Wahrzeichen, Vergnügungstempel, ineffiziente Straßenlaternen und den Straßenverkehr verursachte Lichtverschmutzung nimmt weltweit jährlich um sechs Prozent zu. Allein in Wien ist der Nachthimmel etwa 1500-mal heller als vor den Zeiten der Glühbirne.
Für Berlin hat man eine ganz andere, nicht weniger eindrucksvolle Rechnung aufgestellt: 2013 waren mindestens 180.000 elektrische Laternen nach einem Bericht der Welt am Sonntag in Betrieb. Das lässt die Ausmaße der Lichtverschmutzung in der deutschen Hauptstadt erahnen - dabei sind leuchtende Werbereklame, grell bestrahlte Bürokomplexe oder der Straßenverkehr gar nicht mitgerechnet.
Eine andere, häufig zitierte Rechnung: Eine Stadt mit nur 30.000 Einwohnern hellt den Himmel in einem Umkreis von etwa 25 Kilometern auf. Das macht nicht nur astronomische Beobachtungen unmöglich. Licht ist der stärkste Taktgeber in der Natur, zu viel Kunstlicht gefährdet das ökologische Gleichgewicht, sagen Wissenschafter wie der Astrophysiker Thomas Posch von der Universität Wien. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema und ist einer der Herausgeber des mittlerweile in einer zweiten Auflage erschienenen Standardwerks über die Lichtverschmutzung. Das Ende der Nacht (Wiley-VCH, 2009).
Der heute bereits emeritierte Biologe Gerhard Eisenbeis von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz hat schon vor 15 Jahren in einem Essay für das Magazin Spektrum der Wissenschaften die Auswirkungen der Lichtverschmutzung im Detail beschrieben. Es komme zu Orientierungsfehlern in der Tierwelt, schreibt er - verursacht zum Beispiel durch "Fesseleffekt" von Einzellichtquellen. Nicht nur Nachtfalter werden magisch von Straßenbeleuchtung angezogen - und verbrennen. Damit fehlen aber auch Nahrungsquellen für Vögel. Eisenbeis berichtete auch von Störungen im Hormonhaushalt der Tierwelt, in der Kommunikation der Geschlechter und damit auch in der Fortpflanzung. Und selbst in der Nahrungssuche kommt es zu Fehlverhalten, was schließlich auch zu einer negativen Energiebilanz führt.
Vögel verändern innerhalb der Stadt ihr Sexual- und Brutverhalten: Männliche Blaumeisen beispielsweise neigen in Regionen mit viel Kunstlicht zu wahllosem Paaren, männliche Amseln werden offenbar früher geschlechtsreif und haben aufgrund des höheren Testosterongehalts stärker ausgeprägte Hoden als Artgenossen, die in Regionen leben, wo die Dunkelheit der Nacht weniger gestört ist. Weniger kurios als dramatisch kann nächtlicher Vogelzug, der Energie sparen soll, enden: Wenn die Tiere nämlich von zu stark beleuchteten Hochhäusern angezogen werden und dagegenknallen.
Die Lichtverschmutzung zeigt aber auch beim Menschen deutliche Spuren: Zu viel Kunstlicht tagsüber und Schlafentzug des Nachts bei Nachtarbeitern führt zu körperlicher und psychischer Erschöpfung. Wenn das Schlafhormon Melatonin in zu geringen Mengen ausgeschüttet wird, kann das laut einiger Studien unter Umständen auch die Entstehung bösartiger Tumoren fördern. Selbst das vermehrte Auftreten von Depressionen wird damit in Verbindung gebracht.
Wie also kann man die Lichtverschmutzung eindämmen oder reduzieren? In vielen europäischen Staaten gibt es "Richtlinien zur Messung und Beurteilung von Lichtimmission", wie es zum Beispiel in Deutschland heißt.
Die Stunde ohne Beleuchtung
Schon 1988 wurde von Astronomen die International Dark Sky Assoziation (IDA) gegründet. 2007 hat man das Natural Bridges National Monument in Utah in den USA zum ersten Dark Sky Park ernannt. Mehrere andere sollten folgen. Mittlerweile wird eine Dark Sky Week in den USA veranstaltet. 2007 entstand in Sydney in Australien die "Earth Hour", während deren alljährlich ansonsten beleuchtete Gebäude und Sehenswürdigkeiten in mehreren Tausend Städten für eine Stunde im Dunkeln liegen.
"Globe at Night" startete 2009 als Lernprogramm der US-amerikanischen Weltraumbehörde Nasa. Mittlerweile wurde daraus ein "Citizen-Science-Projekt" in 13 Sprachen. Die Teilnehmer können über Apps festhalten, was sie vom Nachthimmel tatsächlich sehen, und auch verstehen, was sie eigentlich sehen sollten. Dadurch erwartet man sich nicht nur eine Fülle von Daten, sondern auch mehr Problembewusstsein in der Gesellschaft.
Um aber in die Köpfe aller Lichtnutzer zu gelangen, wird es wohl noch einige Zeit brauchen. Neben strengen Gesetzen für öffentliche Beleuchtung fordern Wissenschafter auch ein Nachdenken über die Gleichsetzung von Licht und Sicherheit. Unsinn, schreibt etwa Paul Bogard: "Verbrecher lieben das Licht, weil es ihnen erlaubt, sich ihre Opfer auszusuchen, ihre Fluchtrouten zu planen und ihren Arbeitsbereich zu sehen." (Peter Illetschko, DER STANDARD, 8.4.2015)