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Péter Esterházy wurde als "ungarische Kultfigur seiner Generation" gefeiert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1999 dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

STANDARD: Herr Esterházy, Spione treiben ihr Unwesen, türkische Krummsäbel landen zwischen ungarischen Rippen, und man liest von Wappen und Pferden. Warum haben Sie Ihren Roman in dieser Kulisse angesiedelt?

Péter Esterházy: Die Landschaft des Romans ist eine des 17. Jahrhunderts mit Kutschen, Säbeln und Türken. Aber plötzlich öffnet sich eine Ritze, und es weht eine kalte Luft herein. Das bedeutet, dass wir auf einmal die Stimme der Staatssicherheit hören, und die Spione des 17. Jahrhunderts sind vielleicht auch Spione des 20. Jahrhunderts. Mein Roman ist keine Parabel. Die Melodien aber, die im 17. Jahrhundert erklangen, sind auch heutzutage zu hören.

STANDARD: "Es gibt kein Entkommen, du blickst nach rechts, der Türke, du blickst nach links, der Österreicher", heißt es in der Fußnote zur 32. Seite. Sind die damaligen Niederlagen und Demütigungen heute noch so lebendig im Gedächtnis, dass man sie instrumentalisieren kann?

Esterházy: Ja. Wenn man nicht versucht, die Vergangenheit zu verstehen, kann man sie nicht abschließen. Dann wird sie immer wieder lebendig und kann instrumentalisiert werden. Genau das macht heute die ungarische Politik auf verantwortungslose Weise.

STANDARD: Warum waren die Türkenkriege ein solches Trauma?

Esterházy: Im Leben jeder Nation gibt es Perioden, in der Entscheidungen fallen. Für Ungarn war das das 17. Jahrhundert, als Gefühle und logisches Denken nicht mehr zueinanderfanden. Zwischen der Schlacht bei Mohács und der Rückeroberung Budas liegen mehr als 150 Jahre. Das ist eine lange Zeit. Das Ende dieser Belagerung markiert eine Grenze. Es begann eine neue Welt, und man kannte sich in dieser neuen Welt nicht aus. Plötzlich schwand alles Vertrauen, es entstand eine Skepsis gegenüber der Politik. Die dauert bis heute an. Das ist kein ungarisches Spezifikum. Bei fast allen europäischen Gesellschaften kann man dieses fehlende Vertrauen in die Politik feststellen.

STANDARD: Auch für Wien waren die Türkenkriege ein Trauma ...

Esterházy: Von dieser großen osmanischen Vorwärtsbewegung ging eine ungeheure Kraft aus. Und in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stand Wien immer knapp vor der Eroberung.

STANDARD: Welche Bedeutung haben die Türkenkriege heute noch? Es gibt weder die Osmanen noch die Habsburger. Kann man die Vergangenheit nicht abschließen?

Esterházy: Nein. Die Osmanen und die Habsburger gibt es nicht mehr. Aber es gibt Putin, und es gibt Brüssel - also Ost und West. Und die Wunden sind noch offen, besonders wenn man das will.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass auch in dieser von einigen Gruppen geäußerten Furcht vor einer Islamisierung Europas alte Traumata instrumentalisiert werden?

Esterházy: Das vernünftige Denken weist bei diesem Thema Störungen auf. Was da geäußert wird, entspricht nicht der europäischen und auch nicht der christlichen Tradition. Aber diese Probleme sind nicht auf Ungarn beschränkt. Aus Frankreich sind ebenso ziemlich grobe Antworten zu vernehmen. Wenn jemand sich in sich selbst unsicher fühlt, sind solche Fragen der Fremdenpolitik noch schwieriger zu beantworten. Das hängt mit dieser Selbsttäuschung und dem Leben in Widersprüchen zusammen. Die heutige Länderpolitik im Hinblick auf die EU ist zwiespältig. Das betrifft nicht nur Ungarn. Auch in Westeuropa stimmt die Politik der Länder mit jener der EU nicht überein. Nationale Interessen stehen versus gesamteuropäische Interessen ...

STANDARD: Sie deuteten Parallelen zur Ära Kádár an. Wie steht es um die Aufarbeitung der kommunistischen Jahre in Ungarn?

Esterházy: Sie findet nicht statt. Lügen werden erzählt und Leidensgeschichten. Jeder hat gelitten. Aber keiner hat Schlimmes getan, mit Ausnahme von János Kádár und seiner Frau. Die beiden trugen allein die Verantwortung für das, was geschehen ist. Alle anderen sehen sich nur als Leidende.

STANDARD: Kann man diese Aufarbeitung nachholen?

Esterházy: Es bleibt keine andere Wahl. Die Historiker haben ihre Arbeit getan. So ist es eine Sache des Willens, ob man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt oder nicht. Natürlich ist es eine unangenehme Aufgabe, wenn man sich fragen muss, was man getan hat oder was der Vater getan hat. In Ungarn wurden diese Fragen nicht gestellt. Dafür gab es Gründe. In der Diktatur kann man solche Fragen nicht stellen. Aber nach 1990 hätte es geschehen müssen. Aber es fehlte ... vieles fehlte, auch die Kraft.

STANDARD: Befindet sich Ungarn immer noch auf Identitätssuche?

Esterházy: Ja, es kursieren mehrere Identitäten, die parallel existieren und miteinander kein Wort finden.

STANDARD: Sie haben sich bereits in dem Buch "Verbesserte Ausgabe" mit dem auseinandergesetzt, was Ihr Vater getan hat. Das Thema Vater zieht sich auch durch diesen Roman. "Ich liebe meinen Vater", lautet eine Fußnote. Bleibt die Liebe zum Vater unbeeinflusst von dem, was er getan hat?

Esterházy: Liebe hat mit Moral wenig zu tun. Wir lieben jemanden nicht wegen seiner herausragenden Charakterzüge. Ich hatte eine sehr innige Beziehung zu meinen Eltern, und ich weiß, wie viel ich ihnen zu danken habe. Meine Beziehung zur Mutter war emotionaler. Mein Vater war distanzierter. Aber er hat mich bestärkt. Und darin besteht die Aufgabe eines Vaters, den Moment zu erkennen, da der Sohn zu bestärken ist. Ich weiß nicht, ob ich als Vater diese Aufgabe erfüllt habe oder den Moment schon verpasst habe. Das ist das Geheimnisvolle am Vatertum.

STANDARD: Ist Vaterliebe das Thema Ihres Romans?

Esterházy: Der Roman ist vielschichtiger. Ich glaube nicht, dass man eindeutig sagen kann, wovon er handelt und worüber er spricht. Nur schlechte und mittelmäßige Romane sprechen eindeutig von etwas. Gute Romane sprechen auch. Aber wir können das nicht mit einem Satz übersetzen.

STANDARD: Angeblich aufgrund von Plagiatsvorwürfen haben Sie Fußnoten in Ihren Text eingefügt. Eröffnen Ihnen die Fußnoten eine weitere literarische Ebene?

Esterházy: Das ist wie ein Dialog. Die Fußnoten stehen in Verbindung zum Haupttext. Aber es gibt auch Fußnoten ohne Haupttext, dann vermischen sich obere und untere Welt. Wenn ich die Quellen so penibel angebe, zeigt das, wie hoffnungslos es ist, Quellen anzugeben. Ich könnte jedes Wort mit einer Fußnote versehen.

STANDARD: Weil jedes Wort schon einmal in einem Text stand?

Esterházy: Jeder Text erinnert uns an andere Texte. Darin besteht die Tradition, dass die Bücher aufeinander aufbauen. Wir nennen Europa den Alten Kontinent. Auch die Ausdrücke und Worte sind alt und haben ihre Geschichte. Das hat nicht unbedingt mit Literatur zu tun, sondern hängt mit dem täglichen Sprachgebrauch zusammen. Ich sage einen Satz, und es fällt mir ein, dass mein Vater immer solche Sätze sagte, als ich jung war. Damals irritierten sie mich, trotzdem sage ich sie auch.

STANDARD: Und wenn man die Zitate in Ihrem Roman nicht erkennt oder nicht entschlüsseln kann ...

Esterházy: Das ist nicht so wichtig. Jeder Leser kann da sein eigenes Spiel machen. In diesem Roman sind bei vielen Zitaten die Quellen angegeben. Manche dieser Quellen sind falsch, einige Jahreszahlen stimmen nicht. In der deutschsprachigen Ausgabe eröffnet sich bei den Fußnoten durch die Bemerkungen der Übersetzerin Heike Flemming eine neue Schicht.

STANDARD: Sie nennen Ihren Roman "Mantel-und-Degen-Version".

Esterházy: Er ist eine Version dieser "Einfachen Geschichte Komma hundert Seiten", wie es im Untertitel heißt. Es war mir ernst damit, eine einfache Geschichte zu schreiben, die ungefähr hundert Seiten umfassen sollte. Ich hatte den Wunsch, etwas zu schreiben, was ich früher nicht geschrieben habe, vielleicht auch nicht schreiben kann. Von dem Untertitel stimmt also nur das Komma. In Ungarn ist schon der zweite Band erschienen, die "Markus-Version". Es wird auch noch eine dritte Version geben, für die ich schon viele Notizen habe. Wahrscheinlich werde ich sie "Blixen-Version" nennen. Denn ich schätze diese ruhige Erzählart von Karen Blixen. Und ich wage nicht, sie "Porno-Version" zu nennen. Also es wird eine Liebesgeschichte sein. Wenn alles gutgeht. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 11./12.4.2015)