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Der große argentinische Autor César Aira setzt die undurchschaubaren Figuren seiner Erzählungen den Launen der der Ereignisse und der Willkür der Situation aus.
Man kann, einfach um einer Arbeitshypothese nachzugehen, fragen, warum das Kind im Krankenhaus Geschichten erzählt, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben. Warum es den behandelnden Arzt anlügt. Allerdings muss man sich überlegen, wer da überhaupt vom Arzt behandelt wird in dieser wundersamen Erzählung Wie ich Nonne wurde von César Aira.
Wer da anhebt mit den Worten: "Meine Geschichte, die Geschichte, 'wie ich Nonne wurde', begann sehr früh in meinem Leben, und zwar kurz nach meinem sechsten Geburtstag." Alles deutet darauf hin, dass ein Einzelkind und Mädchen erst eine grauenvolle Episode erlebt und eine Portion übel schmeckendes Erdbeereis vom groben Vater aufgezwungen bekommt, sich schon als "Heulsuse" sieht und völliges Chaos anrichtet, bevor wir überhaupt verstehen, dass das Eis mit Zyankali verseucht ist.
Dann aber nennt der Arzt die Patientin "Don César", etwas später macht die Lehrerin der ersten Klasse ihre Fassungslosigkeit über "den Schüler Aira" in einer völlig verrutschenden Predigt Luft. Offenkundig ist in der Erzählung des 1949 in Coronel Pringels geborenen César Aira ein sechsjähriger Junge namens César Aira aus Coronel Pringels die Hauptfigur. Er ist gerade mit den Eltern nach Rosario gezogen. Später fragt das Kind dann, warum es "das einzige kleine Mädchen auf der Welt war, das nicht eine einzige Puppe hatte". Aber zunächst antwortet die Stadt erst einmal mit verseuchter Eiscreme.
Zyankali also - wir lernen trocken: ein verbreitetes Problem in Argentinien - wundersames Überleben, Krankenhaus, und der kranke Don César ist sich selbst nicht im Klaren, warum er oder sie hier Lügen auftischt: "Ich konnte eine dumme Gans sein, wie ich wollte, ohne dass ich dafür bestraft wurde. Aber es war nicht einfach nur passiver Widerstand. Die bloße Verweigerung wäre zu sehr vom Zufall abhängig gewesen, weil manchmal das Nichts die richtige Antwort sein konnte, ich aber mein Geschick nicht in die Hände des Zufalls legen wollte. Zwar hätte ich auf seine Fragen nicht antworten müssen, machte mir aber die Mühe und log. Ich sagte das Gegenteil der Wahrheit oder von dem, was mir der Wahrheit am nächsten zu kommen schien.
Willkür statt Logik
Es war allerdings auch nicht so, dass ich einfach nur das Gegenteil sagen musste. Er lernte es rasch, seine Fragen so zu formulieren, dass die Antwort nur ja oder nein sein konnte und nichts anderes. Hätte ich immer gelogen, so hätte er nicht lange gebraucht, die Antwort ins Gegenteil zu übersetzen. Da ich mir aber das Lügen zum Grundsatz gemacht hatte, musste ich mir einen Schlängelweg ausdenken, was bei einem Entweder-oder ohne Zwischentöne nicht so einfach ist. Wobei noch eine andere selbstauferlegte Regel hinzukam: die Unwahrheiten nicht mit Wahrheiten zu vermischen. Das tat ich aus Angst, bei der Buchführung durcheinanderzukommen, so dass am Ende doch der Zufall mitregiert hätte. Keine Ahnung, warum ich das tat, aber ich kam damit klar."
Wer jetzt die ersten drei Bände der César-Aira-Reihe aus dem Matthes & Seitz-Verlag liest, kann zusehen, wie rasch aus der Hypothese eine Regel wird: Aira erklärt nichts. Seine Geschichten, die sich winden können wie Sturzregen, der in Bächen glatte Fensterflächen hinabströmt, lassen alle Motivationen der Personen verschwinden und setzen sie den Launen der Ereignisse, der Willkür der Situation aus. Es gibt keine zwingende Logik, sondern höchstens eine unzuverlässige Begründung eines unzuverlässigen Erzählers.
Inmitten schwacher Bezüge zur literarischen Buchhalterlogik. Prämissen werden nicht eingehalten und verschwinden im Vermeintlichen, die Erzählstimme springt zwischen Figuren, dafür erfahren wir über Nebenkriegsschauplätze etwas, das quecksilbrig und aufregend klingt - und bald ins Absurde kippt: Lassen sich die koreanischen Schriftzeichen wirklich in Laute wandeln, wenn man mit der Zunge den bildlichen Bögen und Zacken folgt?
Aira erklärt schon deshalb nichts, weil in der Begründung eine "Geschichte" läge, eine Dramaturgie, die sich von der Exposition zur Auflösung erstrecken müsste: Daran liegt ihm nichts. Vielmehr kann man sogar die sanft lächelnde Haltung eines Erzählers vermuten, die gegen eine Dramaturgie arbeitet, sie unterläuft und vernichtet. Zielt da nicht, aus der Welt des Kindes, das den Vater im Gefängnis besuchen muss, der Blick auf uns? Kommentiert da nicht einer nebenbei die festen Konventionen der Literatur wie auch die Leseerwartung: "Die Vorstellungen, die ich mir davon vorher schon gemacht hatte, brachen, obwohl ich mir gar keine gemacht hatte, in sich zusammen."
Schreiben mit dem Kinderblick
Und ist das nicht auch eine Selbstbeschreibung des Autors, wenn aus den Welten, die Aira skizziert und durch sein Personal zusammenfügt, Sätze ragen, die sich mit wenigen Modifikationen wie eine Matrix der Arbeit des schelmischen Erzählers lesen lassen: "Der erfahrene Lügner weiß, dass der Schlüssel zum Erfolg darin besteht, überzeugend darzustellen, dass man von bestimmten Dingen eben nichts weiß. Zum Beispiel hinsichtlich der Konsequenzen dessen, was er sagt."
All das ist keine Spielerei, sondern präzise Stilmittel: Atemlos folgen wir dem wilden Ritt durch die ungekämmte Psyche des Kindes, der Blick bleibt wegen der sprachlichen Immersion intakt. Überhaupt, der Kinderblick: In Interviews betont Aira, es mit Picasso zu halten, der nämlich zum kindlichen Malen zurückwollte.
Airas unsichere Protagonisten sind oft Kinder und Jugendliche, oder ein zwergenhafter buddhistischer Mönch - Aira nutzt ihren reduzierten, eingeschränkten Blick aus der Randperspektive, von der noch ungefestigten Warte aus. Und kleidet ihn präzise aus: Der schwankende Blick spiegelt sich in der manchmal kristallinen Sprache, die dann wieder rauschhaft als Innenansicht fließt.
Die Erzählungen fallen um, drehen sich ein, kollidieren mit der nüchternen Rationalität, wie ihre Figuren kollidieren, verzweifeln und doch weiter voranstürmen: Ob dann der winzige Mönch noch rechtzeitig zum Beginn der Fernsehsendung kommt - einer minutiösen Begehung einer riesenhaften Vagina, inklusive korrekter Verortung der Klitoris -, ist nur von Gewicht, wenn wir die Angst desjenigen nicht schätzen, der die Sendung zu verpassen glaubt.
César Airas wunderbare Erzählungen, kurz und scheinbar schnell zu lesen, öffnen sich dennoch nur dem Geduldigen, wie die zwanglose Welt eines Kinderspiels. Forderungen des Arztes im Krankenhaus oder strenge Leser entwaffnen sie lächelnd: "Ich konnte nicht. Und das war die häufigste Empfindung in meinem Leben, so sehr, dass sie mein Leben selbst war, ein anderes Leben als dieses kannte ich nicht: Ich hörte eine Stimme, hörte die Befehle, die mir diese Stimme gab, wollte gehorchen und konnte nicht ... Weil die Wirklichkeit, das einzige Feld, auf dem ich hätte handeln können, sich von mir in dem Tempo entfernte, in dem ich begehrte, in sie hineinzugelangen." (Lennart Laberenz, Album, DER STANDARD, 11./12.4.2015)