Als ich im Jahr 2008 die Möglichkeit erhielt, für mehrere Jahre zur EU-Kommission in Brüssel zu wechseln, stieß dies erst einmal auf ungeteilte Begeisterung. Anfangs leider nur meinerseits. Meine Frau war schon deutlich skeptischer. Unsere schöne Mietwohnung in einem gemütlichen Vorort von Wien verlassen – und dann auch noch nach Brüssel. Da gebe es doch nur das zugegebenermaßen potthässliche EU-Viertel, und ansonsten hört man ja nicht viel von diesem Land. Muss doch sehr fad sein.
Liebe auf den zweiten Blick
Von wegen, zumindest letzterer Eindruck konnte, was uns alle als Familie betrifft, nachhaltig ausgelöscht werden. Sicherlich zählen Belgien und Brüssel nicht zu jenen Orten auf der Welt, die einen durchschnittlichen Mitteleuropäer sofort in ihren Bann ziehen. Liebe auf den ersten Blick sieht also definitiv ganz anders aus. Man merkt allerdings schon bald, dass sich ein zweiter Blick durchaus lohnt.
Da wäre zum einen die in Europa vielleicht nur mehr von London übertroffene Internationalität. Brüssel ist Sitz von EU und Nato, das zieht eine Vielzahl von Menschen an, nicht nur die "Eurokratie". Dazu kommt noch die geografische Lage Brüssels, die eine kurzfristige Flucht ins Ausland sehr erleichtert, wenn man des Lands überdrüssig ist. Zudem hat Belgien auch ein durchaus ansehnliches Kulturangebot, das sich nicht nur auf die touristischen Klassiker Brügge und Gent beschränkt. Mein Tipp: die Trappistenkloster und vor allem deren Brauereien.
Unterrichtssprache abhängig vom Wohnort
Ein echtes Vorbild vor allem für österreichische Politiker ist das Land aber vor allem in einer Disziplin: dem Auf-die-Spitze-Treiben des Föderalismus. Gegen belgische Regionalpolitiker sind selbst Michael Häupl und Erwin Pröll kleine Schulbuben. Vor allem in den Umlandgemeinden von Brüssel sind der Föderalismus und damit die Sprachenfrage immanent. Die Wahl des Wohnortes kann entscheiden, in welcher Sprache Kinder unterrichtet werden dürfen. Dies dürfen belgische Eltern nämlich nicht allein festlegen. Vater Staat und Mutter Region reden da sehr laut mit.
Wenn ich etwa von meinem Brüsseler Wohnort zwecks wöchentlichen Fußballspiels in eine Sporthalle in der Wallonie fuhr – Fahrzeit 20 Minuten –, überquerte ich gleich zwei Sprachgrenzen: vom bilingualen Brüssel ins niederländische Flandern, anschließend in die frankofone Wallonie.
Der Sprachenstreit ebbt jedoch ab, je weiter man sich von Brüssel entfernt. Wirkliches "Schlachtfeld" sind nur die sogenannten "Communes à Facilité": Gemeinden rund um Brüssel, die zwar in Flandern liegen, aber aufgrund der mehrheitlich französischsprachigen Bevölkerung besondere Rechte genießen. Das heißt, es gibt dort, obwohl die Orte in Flandern liegen, auch französischsprachige Krippen und Schulen. Es kann jahrelange Rechtsstreitigkeiten auslösen, ob wallonische oder flämische Inspektoren für diese Schulen zuständig sind, und wenn, dann in welcher Sprache?
Unabhängige Gemeinden
Der belgische Staatsrat, vergleichbar mit dem österreichischen Verfassungsgerichtshof, hat hier eine wahrhaft salomonische Entscheidung getroffen: Die frankofonen Schulen in den Communes à Facilité werden von flämischen Inspektoren, aber auf Französisch, betreut. Die Unfähigkeit, sich über den Status dieser Gemeinden zu einigen und darüber, wie der Wahlkreis Brüssel/Halle-Vilvoorde beschaffen sein sollte, führte dazu, dass Belgien zwischen Juni 2010 und Dezember 2011 nur eine geschäftsführende Regierung hatte.
Überhaupt Brüssel: Es ist eigentlich keine Stadt, sondern eine Region, bestehend aus 19 ziemlich unabhängigen Gemeinden ("Communes"). Für kulturinteressierte Menschen hat dies den Vorteil, dass es ebenso viele Kulturzentren gibt. Allerdings trifft dies auch auf Bürgermeister oder Müllabfuhren zu. Dies kann dazu führen, dass in einer Gemeinde der Müll vorbildlich abgeholt wird, während eine Straße weiter sich die Säcke türmen, weil die "MA 48" der dort beginnenden Gemeinde gerade im Streik ist.
Exzellente Kinderbetreuung
Wenn man sich einmal mit den Gegebenheiten, die man ja ohnehin nicht ändern kann, erst recht nicht als Ausländer, angefreundet hat, dann sieht man, dass das Land durchaus auch viele gute Seiten hat. Exzellentes Bier etwa, gutes Essen, vielfältige Leute, das Meer nicht weit – die belgische und auch die nahe niederländische Küste sind besonders für Familien mit Kleinkindern durchaus zu empfehlen – sowie vor allem ein wirklich ausgezeichnetes Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen.
Belgische Kinder werden mit einem Jahr zu 90 Prozent in zahlreichen öffentlichen oder privaten Krippen oder auch bei einer Tagesmutter betreut. Gründe dafür gibt es mehrere: Zum einen haben belgische Eltern rund um die Geburt nur maximal sechs Monate Mutterschutz und Karenzzeit. Je länger man sich vor der Geburt freinimmt, desto weniger Zeit hat man danach noch zur Verfügung. Dazu kommt, dass das Angebot an Krippen sehr groß ist. Das ist wohl nicht nur der Fall, weil der Staat mehr Geld in die Hand nimmt, sondern auch, weil die Hürden für private Einrichtungen niedriger sind: Unsere große Tochter war beispielsweise in einer Kinderkrippe, die von einer ehemaligen Kinderkrankenschwester geleitet wurde.
Kinder werden früh gefördert
Ab dem Alter von zweieinhalb bis drei Jahren geht der Anteil jener Kinder, die noch zu Hause betreut werden, in den Promillebereich zurück. Ab dann beginnt die sogenannte École Maternelle, wie diese Phase der Vorschulzeit heißt. Das System ist kaum mit einem österreichischen Kindergarten vergleichbar. In Belgien werden Kinder schon wesentlich früher gefordert und damit auch gefördert. Es gibt auch schon so etwas wie Lernziele, deren Nichterreichung für das Kind zwar keine Folgen hat, auf die aber in den regelmäßigen Entwicklungsgesprächen hingewiesen wird.
Wir hatten das große Glück, dass sich gegenüber eine kleine öffentliche École Maternelle mit angeschlossener Volksschule befand. Die Gebäude sahen zwar aus wie die meisten öffentlichen Gebäude in Belgien, also erbärmlich, aber das Schulklima und das Lehrpersonal waren exzellent. Meine Töchter waren immer sehr zufrieden dort. In einer Klasse befanden sich meist 20 bis 25 Kinder mit einer Lehrperson. Das hat trotzdem funktioniert, weil den Kindern auf freundliche Art beigebracht wurde, respektvoll und diszipliniert zu sein, es wurde auch viel Wert auf gemeinsame Aktivitäten gelegt.
Bildungseinrichtung statt Spielgruppe
Lehrerinnen – es sind meist Frauen – der École Maternelle haben eine quasi-akademische Ausbildung, vergleichbar mit einer Pädak in Österreich. Dadurch haben sie ein ganz anderes Selbstverständnis. Eine Lehrerin meiner großen Tochter sagte einmal: "Ich erziehe nicht, ich unterrichte."
Daher erübrigt sich aus meiner Sicht auch die in Österreich so lang und breit diskutierte Frage, ob die Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern akademisiert werden soll oder nicht. Das ist nämlich unumgänglich, will man Kindergärten hierzulande als ernstzunehmende Bildungseinrichtung und nicht bloß als betreute Spielgruppen etablieren. (Maximilian Bauernfeind, derStandard.at, 16.4.2015)