Ohne Druck von außen gab es bis in die allerjüngste Vergangenheit kein Interesse der Anatomischen Institute, ihre NS-Vergangenheit zu beleuchten, sagt der Historiker Herwig Czech.

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Illustration aus dem "Lehrbuch der topographischen Anatomie" des ehemaligen Leiters des Innsbrucker Anatomischen Instituts, Anton Hafferl. Es besteht der Verdacht, dass auch in diesem Fall Leichen von NS-Opfern verwendet wurden.

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STANDARD: In den 1990er-Jahren führten Vorwürfe gegen den ehemaligen Vorstand des Wiener Anatomischen Instituts, Eduard Pernkopf, für seinen Anatomieatlas Leichen von NS-Opfern verwendet zu haben, zu einer umfassenden Untersuchung der Bestände. Wieso ist das in Graz und Innsbruck bis heute nicht passiert?

Czech: Ich würde sagen, man hat sich weggeduckt. In Innsbruck untersuchten zwar die französischen Besatzungsbehörden 1947/48, ob sich am Anatomischen Institut Leichen von alliierten Staatsangehörigen befanden. Nach österreichischen oder deutschen Opfern wurde aber nicht gesucht. Bis in die jüngere Vergangenheit wurde das Thema von den Verantwortlichen abgewehrt, das hat sich erst vor kurzem geändert. In Graz hingegen gab es schon 1946 einen Skandal, als bekannt wurde, dass der Institutsleiter Anton Hafferl heimlich Leichen von Justizopfern hatte verscharren lassen. Er wurde kurzzeitig verhaftet, die Sache ist dann aber wieder eingeschlafen. In den 1990er-Jahren wurde unter medialem Druck eine Arbeitsgruppe eingesetzt, zu einer systematischen Aufarbeitung kam es aber nicht.

STANDARD: Für Wien wurde festgestellt, dass das dortige Anatomische Institut im Laufe des Krieges mindestens 1.377 Leichen von hingerichteten Menschen für Forschung und Lehre erhalten hatte. Von welchen Zahlen gehen Sie für Innsbruck und Graz aus?

Czech: In den beiden Instituten ist von der Verwendung der Leichen von mindestens 275 Personen auszugehen, die direkt durch das NS-Regime zu Tode kamen. Ein erheblicher Teil davon waren politische Opfer, also Widerstandskämpfer im engeren Sinn. Hinzu kamen Opfer der NS-Exzessjustiz, die ja schon geringe Vergehen mit der Todesstrafe ahndete. In Graz wurden auch viele ehemaligen Patienten der Pflegeanstalt Am Feldhof anatomisch "verwertet", darunter 17 Minderjährige. Der Verdacht, dass es sich dabei um Euthanasieopfer handelt, drängt sich auf. Das Innsbrucker Institut versorgte sich zudem mit Leichen aus Kriegsgefangenenlagern und übernahm nachweislich auch einige jüdische Opfer.

STANDARD: Muss davon ausgegangen werden, dass allen Medizinern und Studierenden bewusst war, woher die Toten auf ihren Seziertischen stammten?

Czech: Die Betroffenen waren großteils enthauptet worden, das war natürlich auf den ersten Blick erkennbar. Und das wurde auch in den Dokumenten akribisch so vermerkt, da wurde über jede Leiche Protokoll geführt. Es war nie ein Geheimnis.

STANDARD: Von moralischen Vorbehalten also keine Spur?

Czech: Man muss erwähnen, dass in Graz ein Teil der Medizinstudenten der dortigen "SS-ärztlichen Akademie" angehörte und wohl wenig Probleme mit der Herkunft der Toten hatte. Aber auch sonst gibt es keine Hinweise auf Vorbehalte. Erst, als nach dem Krieg die britischen Besatzungsbehörden Leichen von exekutierten NS-Kriegsverbrechern in die Grazer Anatomie bringen ließen, kam es zu Protesten: In einem Flugblatt verwehrten sich Studierende dagegen, politische Opfer auf dem Seziertisch zu entehren und ihnen eine würdevolle Bestattung zu versagen.

STANDARD: Bis wann wurden Ihren Recherchen zufolge sterbliche Überreste von NS-Opfern in Graz und Innsbruck verwendet?

Czech: In Innsbruck bezieht sich der letzte mir bekannte Eintrag auf einen Sezierkurs im Jahr 1957. Das schließt aber die Anfertigung von Schaupräparaten, die länger aufbewahrt werden, nicht mit ein. Es gibt noch heute Präparate, die möglicherweise aus der NS-Zeit stammen, eine systematische Provenienzforschung steht aus. Und es stellt sich natürlich auch die Frage, wie es in anderen Instituten in Innsbruck und Graz aussieht: Auch in anderen Fächern ist die Arbeit mit menschlichen Überresten gängig.

STANDARD: Was ist also vordergründig noch zu tun?

Czech: Wir wissen vor allem auf Ebene der damaligen Forschungspraxis noch viel zu wenig. Die Frage ist auch, was aus den Ergebnissen wurde, die durch verbrecherische Praktiken gewonnen wurden. Und es wäre sehr wichtig, in den betreffenden Instituten ein Bewusstsein zu entwickeln, wie viele Menschen gegen ihren Willen wissenschaftlich verwertet wurden, die eine individuelle Würdigung verdienen. (David Rennert, DER STANDARD, 15.4.2015)