Barbara Frey, Intendantin in Zürich, kann dem Neoliberalismus wenig abgewinnen: "Ich verfolge das mit Grauen!"

Foto: Reinhard Werner

STANDARD: Labiches Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" zeigt zwei Bürger, die sich nach durchzechter Nacht nicht mehr an ihr vorabendliches Tun erinnern können. Es steht die Vermutung im Raum, sie könnten eine Kohlenhändlerin umgebracht haben. Es erscheint den beiden absolut glaubhaft, zu Mördern geworden zu sein. Ist das ein realistisches Verhalten, nicht nur im Paris des 19. Jahrhunderts? Sich selbst das Schlimmste zuzutrauen?

Barbara Frey: Man muss weiter zurückgehen, um über diesen Ich-Begriff überhaupt etwas aussagen zu können. Dass in einem selbst womöglich noch ein anderer wohnt, das ahnten ja schon die alten Griechen. Shakespeare, der vielleicht der größte Theaterautor der Weltliteratur, dient in diesem Zusammenhang als Kontrollzentrum. Er hat das in allen seinen Stücken thematisiert: Man findet nicht wirklich Zugang zum eigenen Selbst. Das hatte damit zu tun, dass die Elisabethaner der Überzeugung waren, dass man das, was man spielt, ist; dass man das, was man ist, aber auch spielt.

STANDARD: Die Idee der Identität ist eine Illusion?

Frey: Es gibt keine festgefügte Identität, so wie wir sie zu kennen glauben. Das Stück von Labiche hat genau damit zu tun. Die Figuren bringen zum Ausdruck: Wir waren betrunken, und der "Filmriss" ist die Tarnung dafür, dass man nicht weiß, was man getan hat. Aber der Mensch tut ja auch Dinge, wo er im allernüchternsten Zustand angeblich nicht mehr weiß, was er getan hat. Das bildet genau den interessanten Bodensatz der Komödie. Bei allem zahnradartigen Witz im Ablauf besitzt sie diesen etwas unheimlichen Unterboden. Der passt auch gut nach Wien, die Freud-Stadt, wo man Es und Über-Ich überhaupt erst begrifflich festgehalten hat.

STANDARD: Leuchtet da nicht bereits die Moderne auf? Der Surrealist André Breton wird die Tat um der Tat willen feiern und von einem Schuss träumen, den man blindlings in die Menge abfeuert.

Frey: Ja, die Avantgarde spukt da bereits herum. Man gelangt zur "Tat" wie die Jungfrau zum Kind. Dazu kommt natürlich das Vertuschen. Interessanterweise akzeptieren die beiden Männer, Lenglumé und Mistingue, ja, was sie getan haben. Sie sind aber nicht mit Schuldgefühlen beschäftigt, sondern sagen: Wir müssen uns jetzt lediglich den Kohlenstaub von den Händen waschen, damit man nichts merkt. Das ist monströs.

STANDARD: Mit Labiche lässt sich ein Bogen spannen von Sophokles bis weit herauf ins 20. Jahrhundert?

Frey: Manchmal sagen die Leute ja auch bloß: Tut nicht so, als wäre die Komödie etwas besonders Qualifiziertes. Mir ist sie außerordentlich wichtig, sie ist eine ganz wesentliche Konstante für unsere gesamte Kultur. Das Lachen vergeht einem, um wieder auszubrechen. Lachen wird ja häufig abgetan. Das ist aber vielleicht auch ein sehr deutsches Phänomen.

STANDARD: Die Komödie sei nicht seriös?

Frey: Sie ist hochseriös. Nicht nur, weil sich bei ihr an Sophokles denken lässt, sondern weil das Leben so ernst ist. Von Beckett stammt der schöne Satz: "Nichts ist komischer als das Unglück." In Lenglumé - Mistingue sind die Beckett-Paare schon vorausgedacht: Wladimir und Estragon, Hamm und Clov, Mercier und Camier...

STANDARD: Mit Nicholas Ofczarek und Michael Maertens stehen Ihnen zwei der größten Hochkomiker des deutschen Sprachraums zur Verfügung. Wie bringt man sie dazu, sich ihrem eigenen Unbewussten zu stellen?

Frey: Sie sind beide absolut neugierig, das ist das Wichtigste. Zugleich können sie sich in den Zustand vollkommener Unschuld versetzen. Das ist das Entscheidende. Ab da kann man alles machen. Mit Maertens ist es meine mittlerweile achte Arbeit, mit Ofczarek die zweite. Bei ihm habe ich ebenso das Gefühl, wir würden uns ewig kennen. Zu ihrem großem Handwerk kommt das Suchen. Sie begreifen, dass ihre Figuren unschuldig sein müssen. Man lacht ja auch, weil jemandem etwas passiert. Wenn man zu stark die Absicht dahinter bemerkt, ist man verstimmt, sowohl was den Schauspieler als auch seine Figur betrifft. Was man in Wahrheit suchen muss, ist die Kleist'sche Anmut. Gesucht wird die unbewusste Vollkommenheit.

STANDARD: Apropos Komödie: In Berlin branden aktuell wieder Diskussionen über die Großtheater hoch. Was sagen Sie zu diesem Stimmenkonzert?

Frey: Es passiert eine gefährliche Form von Wachablösung. Die Menschen, die von der "alten Richtung" herkommen, wie Peymann oder Castorf, haben unglaublich viel für die Theater des deutschsprachigen Raums getan. Die werden abgelöst durch Kultureventmanager. Das ist etwas, was wir in Zürich auch kennen: Es gibt eine zunehmende Skepsis gegenüber der Kultur im Allgemeinen wie auch gegen die Exponenten der subventionierten Kultur. Man bezeichnet sie zunehmend als geldgierig, despotisch oder Ähnliches. Das ist Nonsens.

STANDARD: Was steckt dahinter?

Frey: Eine wirtschaftspositivistische Effizienzkulturstrategie. Solche Stimmen sagen: "Da muss jetzt wieder mal ne andere Form von Wettbewerb hinein! Gelder weg, Ensembles weg, und wir holen da mal so ein paar Zampanos!" Ich kann das nur mit äußerstem Grauen verfolgen. Ich bin jetzt 52. Als ich zu Anfang meiner Zwanziger ins Theater hineingekrochen bin, da gab es keine Handys, keine Mails. Ich war Assistentin bei dem wunderbaren Werner Düggelin, bei Castorf. Wir wurden mit dem Leben auf der Probebühne sozialisiert. Ich verstehe übrigens auch nicht, warum manche Kulturjournalisten bis zur Selbstdemontage gehen und bereitwillig in den Chor der Wegrationalisierer einstimmen. Vielleicht müsste man auch darüber reden.

STANDARD: Hat sich auch das Klima in Zürich verschärft?

Frey: Es hat sich insgesamt spürbar verschärft. Die pessimistische Haltung gegenüber kulturellem und künstlerischem Schaffen ist nicht wegzudiskutieren. Die Frage tut sich auf: Warum? Rüdiger Safranski hat einmal in einem schönen Aufsatz geschrieben: Wir haben in einer säkularisierten Gesellschaft keinen Gott mehr, an den wir delegieren können, er sei ein schlechter Gott, weil er die Welt nicht erlöst. Also muss man etwas anderes ins Visier nehmen. Politik und Wirtschaft sind schon durch. Jetzt richtet man sich an die Adresse der Kultur: Ihr seid Kulturschaffende - und könnt die Welt nicht verbessern! Natürlich verbessert kein Theaterstück, kein Gemälde, kein Gedicht die Welt. Aber die Welt wird durch sie erträglicher. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 16.4.2015)