Postmortale Schnittspuren am Oberschenkelknochen eines etwa zehnjährigen Kindes, das vor mehr als 57.000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Frankreich lebte. Ein tierischer Ursprung der Verletzungen wird von Forschern ausgeschlossen.

Foto: Garralda et al.

Bordeaux/Wien - Es war eine paläoanthropologische Sensation: Im August 1908 entdeckten Forscher im südwestfranzösischen La Chapelle-aux-Saints das gut erhaltene Skelett eines männlichen Neandertalers, der offenbar intentional in einem Grab beigesetzt worden war. Der Fund gilt als erster Beleg dafür, dass schon Neandertaler ihre Toten bestatteten, - und rückte das bis dahin vorherrschende Bild vom primitiven Höhlenbewohner etwas zurecht.

Seither führten weitere Funde von Grab- und Höhlenbestattungen in Europa und Westasien dazu, dass Homo neanderthalensis neben Homo sapiens die fossil am besten überlieferte Art der Hominini ist.

Schnitte und Frakturen

Wie Wissenschafter um María Dolores Garralda von der Universität Bordeaux berichten, ist jedoch einiges am Umgang der Neandertaler mit ihren Verstorbenen mysteriös: Die Analyse von Knochen zweier Erwachsener und eines Kindes, die vor rund 57.600 Jahren nahe dem ebenfalls in Südwestfrankreich gelegenen Marillac-le-Franc gelebt haben dürften, weisen massive Verletzungen und Beschädigungen auf. So finden sich am Oberschenkelknochen des etwa zehnjährigen Kindes deutliche Schnittspuren und Knochenfrakturen, die auf eine heftige Gewalteinwirkung schließen lassen. "Die Morphologie dieser Verletzungen deutet klar auf Manipulationen nach dem Tod des Kindes hin, für einen tierischen Ursprung gibt es aber keinerlei Hinweise", so Garralda.

Auch die Überreste der beiden Erwachsenen weisen Spuren von postmortalen Schnitten und Schlägen auf. Derartige Funde beschränken sich aber nicht allein auf die Fundstätte bei Marillac-le-Franc, wie die Forscher im "American Journal of Physical Anthropology" schreiben: Auch an anderen Ausgrabungsorten in Europa seien in der Vergangenheit Hinweise auf solche Verletzungen bei Neandertalern entdeckt worden.

Fraglicher Ursprung

Doch welchen Zweck hatten diese Gewalthandlungen an Toten? Laut Garralda und Kollegen kann darüber derzeit nur gemutmaßt werden. "Es könnte sich um Rituale handeln, aber auch um Kannibalismus aus kulturellen Gründen oder schlicht aus Notwendigkeit", so die Forscherin. Zumindest Letzteres sei aber für die Funde bei Marillac-le-Franc recht unwahrscheinlich: Die zahlreichen fossilen Überreste sowohl von Tieren als auch von Neandertalern in der Gegend zeugen eher von einer günstigen Ernährungslage denn von Hungersnöten.

Auch sonst gibt es keine Belege für Kannibalismus unter Neandertalern. Rituale, bei denen Leichen der eigenen Angehörigen, aber auch die Verstorbenen von rivalisierenden Gruppen zerteilt oder anderweitig manipuliert werden, sind von einigen späteren Kulturen bekannt. Ob auch schon Neandertaler solche Praktiken ausübten, bleibt vorerst unbeantwortet. (David Rennert, DER STANDARD, 16.4.2015)