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Ein Kind wird am Montag gerettet, im Hafen von Pozzallo auf Sizilien.
Catania/Genf - Nach der Flüchtlingstragödie vor der Küste Libyens gehen die Vereinten Nationen nun von etwa 800 Todesopfern aus. "Man kann sagen, dass 800 Menschen gestorben sind", sagte die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Italien, Carlotta Sami, am Dienstag im sizilianischen Catania. Der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo, bestätigte diese Schätzung. Bisher wurden 24 Leichen geborgen, nur 28 Menschen wurden gerettet.
Das Schiffsunglück soll von einer Kollision zwischen dem schwer beladenen Migrantenboot und einem portugiesischen Handelsschiff verursacht worden sein, das den Flüchtlingen helfen wollte. Das berichteten Überlebende den Vertretern des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR am Dienstag.
Panik ausgelöst
Ein tunesischer Schlepper, der das Flüchtlingsboot steuerte, ist demnach versehentlich gegen das Handelsschiff "King Jacob" geprallt. Dies löste Panik an Bord des überfüllten Flüchtlingsbootes aus, das ins Schwanken geriet und umkippte. Überlebende berichteten, dass sich an Bord des Schiffes circa 800 Personen befanden.
Der Kapitän des portugiesischen Schiffes hatte dagegen eine Kollision mit dem Flüchtlingsboot dementiert. Die Aussagen werden jetzt von der Staatsanwaltschaft von Palermo überprüft, die die Ursachen der neuen Flüchtlingstragödie ermittelt.
Zwei Besatzungsmitglieder festgenommen
27 Menschen kamen am Montagabend im Hafen von Catania an. Zwei von ihnen wurden umgehend festgenommen, weil sie zur Besatzung des Flüchtlingsboots gehört haben sollen. Es handle sich um den mutmaßlichen tunesischen Kapitän und einen Syrer, der ebenfalls der Besatzung angehört habe.
Die anderen Überlebenden wurden in ein Auffanglager nahe Catania gebracht, berichteten italienische Medien. Vier Minderjährige wurden in eine Einrichtung für junge Flüchtlinge eingeliefert. Der 28. Überlebende des Unglücks vom Wochenende war wegen seines schlechten Gesundheitszustands schon früher nach Catania gebracht und dort ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Juncker spricht von moralischer Verpflichtung der EU
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der am Dienstag Wien besucht, sieht die EU angesichts der Flüchtlingsdramen im Mittelmeer in der Pflicht. "Der Status quo ist keine Option mehr. Die gesamte EU hat die moralische und humanitäre Verpflichtung, zu handeln", erklärte Juncker.
Juncker betonte bei einer gemeinsamen Pressekonfrenz mit Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), dass auch die Ausrichtung der europäischen Entwicklungspolitik einer Überprüfung unterzogen werden muss. Der EU-Kommissionpräsident kritisierte in diesem Zusammenhang auch die in einigen EU-Staaten sinkenden Ausgaben für Entwickungspolitik.
Mehr Mittel nach EU-Sondergipfel erwartet
Sowohl Faymann als auch Juncker erwarten bei dem Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in Brüssel, dass die finanziellen Mittel erhöht werden, um in Seenot geratene Flüchtlinge retten zu können. Die beiden Politiker forderten Solidarität mit den am meisten von dem Flüchtlingsdrama betroffenen Ländnern - Italien und Malta.
Eine langfristige Lösung der Flüchtlingskrise oder einen Weg wie die Ursachen der Flucht bekämpft werden können, gibt es konkret noch nicht. Juncker wünscht sich die Möglichkeit, dass Asylanträge bereits in den afrikanischen Herkunftsländern gestellt werden könnte. Ob und diese Möglichkeit umgesetzt werden kann, das konnte der Kommissionspräsident auch nicht ad hoc beantworten.
"Schlimmstes Massensterben im Mittelmeer"
Nach dem Kentern des Flüchtlingsboots vor Libyen in der Nacht auf Sonntag hatte das UNHCR zunächst von etwa 700 Todesopfern gesprochen. Damals hatte Sami bereits gesagt, sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre es das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde".
Seit Beginn des Jahres sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schon 30 mal mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken als im Vorjahreszeitraum. Bisher seien 2015 mehr als 1.750 Flüchtlinge ums Leben gekommen, sagte IOM-Sprecher Joel Millman am Dienstag vor Journalisten in Genf. Vor einem Jahr habe es zu diesem Zeitpunkt 56 Opfer gegeben.
Das etwa 20 Meter lange Flüchtlingsschiff war rund 110 Kilometer vor der Küste Libyens und in rund 200 Kilometern Entfernung von der italienischen Insel Lampedusa in Seenot geraten und gekentert. Nur 28 Menschen überlebten, 24 Leichen wurden geborgen. Nach Angaben eines Überlebenden, der vor der Ankunft der übrigen Überlebenden in Catania ins Krankenhaus eingeliefert worden war, befanden sich sogar 950 Flüchtlinge an Bord, darunter 50 Kinder und 200 Frauen. Die Schlepper hätten viele von ihnen im Frachtraum eingesperrt.
Kapitän und Besatzungsmitglied verhaftet
Die italienische Polizei nahm unterdessen den tunesischen Kapitän und ein syrisches Besatzungsmitglied des vor der libyschen Küste gekenterten Flüchtlingsschiffes fest. Sie waren unter den 27 der 28 Überlebenden der Katastrophe, die am späten Montagabend im Hafen der sizilianischen Stadt Catania eintrafen. Wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa in der Nacht auf Dienstag berichtete, wirft ihnen die Staatsanwaltschaft mehrfache fahrlässige Tötung, Menschenhandel und Schiffbruch vor.
Die beiden seien von anderen Überlebenden identifiziert worden, sagte der zuständige Staatsanwalt Giovanni Salvi. Auch der Flüchtling aus Bangladesch, der im Krankenhaus von Catania liegt, habe sie auf Fotos erkannt. Die Überlebenden waren an Bord der "Gregoretti" der italienischen Küstenwache nach Sizilien gebracht worden. Dort empfing sie Verkehrsminister Graziano Delrio.
Italiens Küstenwache am Ende der Kräfte
Die italienische Marine und Küstenwache ist wegen der massiven Flüchtlingswelle und den jüngsten Tragödien im Mittelmeer unter Druck. "Wir sind erschöpft, wir sind mit einem wahren Ansturm konfrontiert und am Ende unserer Kräfte", klagte der Kommandant der italienischen Hafenbehörden, Admiral Felicio Angrisano, am Dienstag.
Täglich seien 2.000 Personen auf See und am Festland im Einsatz, um die Flüchtlinge zu versorgen. Marine, Küstenwache und Hafenbehörden seien seit Wochen arg unter Druck. "Wir sind mit einem biblischen Exodus konfrontiert. Wir leisten im Rahmen des EU-Einsatzes 'Triton', was möglich ist, doch jetzt ist die Zeit für eine Mobilisierung der EU gekommen", meinte Angrisano im Gespräch mit der römischen Tageszeitung "La Repubblica".
Die Todesopfer der neuen Flüchtlingskatastrophe bezeichnete der Admiral als "Mordopfer". Wichtig sei es, entschlossen gegen die Schlepperbanden vorzugehen. "Bei den Ermittlungen gegen die Schlepperbanden sind große Fortschritte gemacht worden. Immer mehr Flüchtlinge sind zur Zusammenarbeit mit den Justizbehörden bereit", meinte Angrisano.
Arme Flüchtlinge auf risikoreicheren Reisen
Der Admiral berichtete, dass syrische Flüchtlinge für die Reise nach Europa mehr zahlen können. "Für sie werden daher sicherere Reisen organisiert. Eingesetzt werden oft 80 Meter lange Tanker, die stabiler sind. Für die ärmeren Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea sind die Reisen risikoreicher", so der Admiral.
Das italienische Rettungsprogramm für Flüchtlinge, "Mare Nostrum", war vergangenes Jahr ausgelaufen. Es wurde durch die EU-Grenzschutzmission "Triton" abgelöst. Menschenrechtler und Hilfsorganisationen sehen darin aber mehr eine Abschreckungsmaßnahme als ein Rettungsprogramm für Menschen in Not. Rom pocht auf mehr Hilfe aus Europa, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen.
Seenothilfe soll ausgeweitet werden
Als Reaktion will die Europäische Union die Seenothilfe massiv ausweiten. Bei einem Krisentreffen der Außen- und Innenminister am Montag in Luxemburg wurden Pläne für die Verdoppelung der Mittel für die EU-Programme "Triton" und "Poseidon" auf den Weg gebracht. Sie sollen den Einsatz von deutlich mehr Schiffen ermöglichen und noch am Donnerstag auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs vorgelegt werden.
Neben der Ausweitung der Seenotrettung könnten künftig gezielt von Schleppern genutzte Schiffe beschlagnahmt und zerstört werden. Vorbild sei die militärische Anti-Piraterie-Mission "Atalanta" am Horn von Afrika, sagte der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos in Luxemburg bei der Vorstellung eines Zehn-Punkte-Plans. "Atalanta" begleitet nicht nur zivile Schiffe, sondern zerstörte mehrfach auch Piratenlager.
Unglücksstelle sehr tief
Ob das Schiff und die vermutlich hunderten Leichen geborgen werden können, war unklar. Die Küstenwache erklärte, möglicherweise werde es keine Gewissheit über die Zahl der Toten geben, da das Mittelmeer an der Unglücksstelle sehr tief sei.
Die Flüchtlinge treten nach Berichten von Überlebenden und Helfern die Fahrt über das Mittelmeer oft auf völlig überladenen und nicht seetüchtigen Booten an – bisweilen sogar ohne genügend Treibstoff.
Das Bürgerkriegsland Libyen ist derzeit ein Haupttransitland. Seit Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 mit Unterstützung des Westens gestürzt wurde, rivalisieren in Libyen islamistische Milizen und nationalistische Kräfte gewaltsam um Macht und Einfluss. Es gibt keine funktionierenden Grenzkontrollen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Palermo auf Sizilien warten in Libyen bis zu eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Europa. (APA, 21.4.2015)