Beduinengärten sind nicht nur landwirtschaftliche Produktionsflächen, sondern auch Refugien für die Fauna der Region. 55 wilde Pflanzenspezies wurden dort entdeckt.

Foto: Olivia Norfolk

Nottingham - Jeden Frühling machen sich Heerscharen kleiner und großer Vögel von Afrika aus auf den Weg nach Europa zu ihren Brutgebieten. Niemand weiß genau, wie viele es sind. Die Schätzungen gehen in die Milliarden. Ein Teil der gefiederten Legionen wählt eine östliche Route und passiert so das Mittelmeer. Nachdem sie das Niltal hinter sich gelassen haben, fliegen die Tiere nordwärts über Israel und die Levante hinweg, Kurs Anatolien. Doch zuvor wird noch einmal aufgetankt.

Die Reise zehrt gewaltig an den Kräften der Vögel, sagt die britische Biologin Olivia Norfolk. "Sie verbrennen dabei eine Menge ihres Körpergewichts." Vor allem die Singvögel. Während Schwarzmilane, Wespenbussarde und auch Störche im Gleitflug energiesparend die Thermik nutzen, müssen sich die kleineren Spezies flatternd fortbewegen.

Die Sahara in 50 Stunden

In Wüstengebieten machen sie dies nachts, um der Hitze zu entgehen. Gerastet wird bei Tag in schattigen Plätzchen unter Felsen oder in Oasen. Die Sahara überqueren viele Singvögelarten in nur 40 bis 50 Stunden. Weiter auf ihrem Weg nach Norden können es die Fernflieger etwas ruhiger angehen. Manche legen nun längere Pausen ein. Entlang der Ostroute tun sie dies etwa im Nildelta, aber auch auf der Halbinsel Sinai - eine überaus dürre und karge Landschaft. Dennoch begegnet man hier im Frühling erstaunlich vielen Zugvögeln, wie Norfolk berichtet. Die an der University of Nottingham tätige Wissenschafterin untersucht bereits seit mehreren Jahren Ökologie und Artenvielfalt des Sinais. Darunter auch die Avifauna.

Norfolks besonderes Interesse gilt den bewässerten Beduinengärten der Region. Im Gebirge rund um den biblischen Berg Sinai, wo Moses laut Altem Testament die Zehn Gebote erhielt, gibt es diese von Menschenhand geschaffenen Oasen vermutlich seit dem 4. Jahrhundert. Damals ließen sich griechische Mönche dort nieder und gründeten das berühmte Katharinenkloster. Sie, so heißt es, haben auch die Gartenkultur auf die Halbinsel gebracht. Die einheimischen Gebaliya-Beduinen übernahmen die Techniken und nutzen sie bis heute. Ihre traditionelle Lebensweise ist halbnomadisch, berichtet Norfolk. Im Winter begleiten die Gebaliya ihre Viehherden in die tiefergelegenen Wüstenregionen, die wärmere Jahreszeit verbringen sie in den Bergen, wo sie ihre Gärten bewirtschaften. Letztere liefern Obst, Oliven, Mandeln und Gemüse, hauptsächlich zur Selbstversorgung.

Botanische Schatzkammern

Die künstlichen Haine stellen allerdings nicht nur für ihre Besitzer einen wertvollen Lebensraum dar. Norfolk hat zusammen mit einigen Kollegen eine Bestandsaufnahme der dort gedeihenden Pflanzen gemacht. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Diversität auf. Insgesamt konnten die Forscher 96 verschiedene Arten nachweisen (siehe "Basic and Applied Ecology", Bd. 14, S. 659).

55 davon sind wilde, also nicht kultivierte Spezies, die anderswo gern als Unkraut bezeichnet werden. Nur wenige dieser Gewächse waren indes in benachbarten Arealen anzutreffen - außerhalb der Plantagen, im Wüstengelände. Die Beduinengärten sind demnach nicht nur landwirtschaftliche Produktionsflächen, sondern auch Refugien für die heimische Flora der Region. Echte botanische Schatzkammern.

Die Vielfalt wirkt sich selbstverständlich auch auf die Tierwelt aus. In den Gärten kommen deutlich mehr Insekten vor, sagt Norfolk. Im Frühling werden sie vor allem von den Obstbäumen angelockt. Mandel-, Aprikosen-, Birnen- und Apfelblüten betören die summenden Scharen. "Vögel wiederum ernähren sich von diesen Insekten", sagt Norfolk.

Später, im Mai und Juni, ist der Tisch schon reich mit allerlei Früchten gedeckt. Die Biologin konnte derweil Pirole in Beduinengärten observieren. In Mitteleuropa brüten diese Sommergäste bevorzugt in Auwäldern und anderen hochwüchsigen Baumbeständen. Norfolk hält es sogar für möglich, dass einige Pirole auf dem Sinai ihre Nester bauen - des guten Nahrungsangebots in den Plantagen wegen.

Zwei Monate Beobachtungen

Das britische Expertenteam hat nun auch eine erste systematische Studie zu den gefiederten Oasenbesuchern vorgelegt (siehe Journal of Arid Environments, Bd. 14, S. 110). Die Wissenschafter führten zwei Monate lang, im März und April 2014, in insgesamt zwölf Beduinengärten regelmäßige Beobachtungen durch und registrierten sämtliche dort gesehene Vögel. Insgesamt wurden dabei 407 Stück gezählt, zu 34 verschiedenen Arten gehörend.

16 dieser Spezies sind regional ansässig, der Rest sind Zugvögel. Die Haine, so scheint es, dienen vielen Fernfliegern als regelrechte Raststätten. Einige Arten jedoch, wie das Rotkehlchen, nutzen die Gärten als Winterresidenz. Sie fliegen gar nicht weiter in den Süden.

Die umliegende Gebirgslandschaft dagegen hat den Tieren wohl wenig zu bieten. Die Wissenschafter trafen dort praktisch keine Zugvögel an. Nur Mauersegler flogen hin und wieder über das dürre Gelände. Gäbe es die Beduinengärten nicht, würden die gefiederten Nomaden den Sinai wahrscheinlich komplett meiden, meint Norfolk.

Ganz anders als im Nildelta indes genießen die Vögel in den Plantagen auch einen gewissen Schutz. Gejagt wird dort nicht, niemand stellt Fallen oder Netze auf. Vor fliegenden Feinden müssen sich die kleineren Arten dennoch in Acht nehmen. Norfolk und ihre Kollegen konnten zwischen den Obstbäumen mehrfach Sperber beobachten. Die Raubvögel sind ebenfalls Durchzügler, und Rotkehlchen und Co stehen ganz oben auf ihrem Speisezettel. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 22.4.2015)