Als ein Geschäftsreisender sich Ende der Fünfzigerjahre beim Tanken in der spanischen Stadt Santander als Österreicher zu erkennen gibt, überrascht ihn der Tankstellenbesitzer mit einer ungewöhnlichen Bitte: "Suchen Sie meine Tochter. Wenn Sie das nächste Mal nach Santander kommen, bringen Sie sie mit."
Die Gesuchte befand sich in Wien. Dort lebt Edith Willinger heute noch. An einem April-Nachmittag des Jahres 2015 sitzt sie in einer kleinen Runde im 3. Bezirk an einem Wohnzimmertisch und erzählt mit zartrosa Wangen von den neun Monaten, die sie als Achtjährige bei der Familie jenes Sprithändlers erlebte. "Wir haben in einem Chalet gewohnt. Dahinter begannen die Felder", schildert die Wienerin. "Exzellente Festessen" seien kredenzt worden. Und sie habe das erste Mal beim Fotografen posiert. "Das war zur Erstkommunion", schwärmt sie.

"Spanienkinder" nennen sich jene, deren Mittelpunkt ihres noch jungen Lebens sich kurz nach der Gründung der Zweiten Republik für einige Monate in das Land verlegte. Sogenannte Kinderlandverschickungen erfolgten sowohl in Österreich als auch ins europäische Ausland.
Christine Maisel-Schulz, selbst Spanienkind, schrieb 2010 eine Dissertation darüber. Sie sagt, schon diese Reisen hätten sie zur Kosmopolitin gemacht: "Seither leide ich an chronischem Fernweh." Wie oft sie schon irgendwo weggeflogen und gelandet sei, das wisse sie gar nicht mehr. Mehrere Jahre verbrachte sie auch arbeitend im Ausland: in Belgien und in Jamaika.

"Mutter hat bitter geweint"
Christine Maisel-Schulz, damals noch Christine Schulz, ist im Herbst 1948 acht Jahre jung, auf 19 Kilogramm abgemagert und leidet an Tuberkulose. Eigentlich ist sie nicht reisetauglich. Doch ihr Hausarzt hat der Mutter geraten, das Töchterchen statt ins Spital über den Winter in den Süden zu schicken. "Meine Mutter hat am Westbahnhof bitter geweint", erinnert sich die heute 74-Jährige, wenn sie an den 20. Oktober 1949 zurückdenkt. Sie steigt mit 488 anderen Buben und Mädchen auf dem Wiener Westbahnhof in einen Zug nach Spanien. Jedem Kind wird ein Papierkärtchen mit seinem Namen und einer Nummer darauf um den Hals gehängt. Und los geht es.
Mehrere Tage sind diese Kindertransporte gen Süden unterwegs. Die Kleinen schlafen in den Gepäcksnetzen oder auf Packpapier auf dem Boden. In Spanien angekommen, verbringen sie noch einige Tage bis Wochen in einem Kinderheim in Pamplona: zur Untersuchung und für hygienische Maßnahmen. Danach werden sie grüppchenweise in alle Himmelsrichtungen innerhalb des Landes verteilt. Damals, im spanischen Dorf Forcall in den valencianischen Bergen, nahm eine Familie, die eine Fabrik zur Herstellung von Stoffschuhen – Espandrillos – besitzt, die kleine Christine auf. "Sie lebten vergleichsweise bescheiden. Meine Pflegemutter hätte sich sicher Hausangestellte leisten können, aber sie wusch ihre Wäsche selbst", erinnert sich Maisel-Schulz. "Erst später habe ich herausgefunden, dass die Familie über große Besitzungen verfügte."
Das österreichische Mädel ist "sehr wissbegierig". Und auch auf die Mahlzeiten zeigt sie großen Appetit: "Als ich nach Österreich heimkehrte, wog ich 27 Kilogramm. Für eine Zehnjährige immer noch zu wenig, aber doch deutlich mehr als zuvor."
In ihrer Doktorarbeit stellt Maisel-Schulz später fest, dass die Caritas von 1947 bis 1958 insgesamt 37.000 Verschickungen von bis zu zehnjährigen Kindern ins Ausland organisierte. Je knapp 10.000 kamen in Belgien und Holland unter, rund 5600 in Portugal, knapp 4000 in Spanien, rund 3500 in der Schweiz, mehr als 2500 in Luxemburg und einige hundert in Deutschland und Italien.

Das damals von Diktator Francisco Franco regierte Spanien bot die Aufnahme mangelernährter Kinder aktiv an. Hoffend, so aus der politischen Isolation zu gelangen, wie Maisel-Schulz herausfand. Der Abschluss ihrer Forschungsarbeit im Fach Geschichte war für die Seniorenstudentin ein persönlicher Triumph. "Ein Studienabschluss, war ein Lebenstraum von mir", sagt die Wienerin, die erst eine Studienberechtigungsprüfung ablegen musste, um an die Uni zu dürfen. Dass heute viel mehr Menschen studieren als in ihrer Jugendzeit, hält sie für eine der größten Errungenschaften der Zweiten Republik.
Nur "Salü" und "Grüezi"
Auch das Rote Kreuz organisiert in den Nachkriegsjahren Erholungsaufhenthalte für Kinder außerhalb Österreichs. In einem der Züge 1947 in die Schweiz sitzt Erich Sinor. Als er in einem kleinen Dorf im Kanton Aargau ankommt, kann er auf Schwyzerdütsch gerade einmal "Salü" und "Grüezi" sagen. Drei Monate verbringt er bei einem jungen Bauernpaar. 1948 kehrt er für ein halbes Jahr erneut dorthin zurück. Auf dem Hof hat jeder seine Aufgaben. Erich muss die Hasen und Hendln umsorgen. "Vor den Hasen hatte ich etwas Angst, weil die so Haken geschlagen haben. Aber die Hendln mochte ich", erzählt Sinor. Jedem gab er einen eigenen Namen. Eines Tages fehlt ein Federvieh. Ab dem Moment, als ihm bewusst wird, dass das liebe Vieh wohl auf seinem Teller gelandet ist, rührt er keinen Bissen Hüherfleisch mehr an. Bis heute hält er es so.

Trotzdem hat Sinor die Zeit in der Schweiz in sehr positiver Erinnerung. Neun Jahre lang leitet er einige Jahrzehnte später den Club der ehemaligen Schweizerkinder. Er organisiert Mitgliederreisen, Feste mit Politprominenz und entwirft eine Gedenktafel, die im Jahr 2012 vor dem Palais Liechtenstein im 9. Bezirk enthüllt wird. Viermal im Jahr gibt Sinor in dieser Zeit die Mitgliederzeitung "Grüezi Mitenand" heraus. Die intensive Beschäftigung mit dieser Kindheitsperiode kam erst mit dem Alter. "Erst als ich Zeit dafür hatte", sagt Sinor. Doch auch 1955, als Österreich seine Neutralität verkündete, da habe er intensiv an die Schweiz gedacht.
Spanisches Clubtreffen
Clubs wie jener der Schweizerkinder existieren in Österreich mehrere, beispielsweise auch die "Österreichisch– Portugiesische Gesellschaft", die aus einem Verein von Portugalkindern hervorging. 1979 wurde der Club Encuentro gegründet. Er besteht in erster Linie aus einst nach Spanien verschickten österreichischen Kindern. Die Mitglieder wollen die Sprache und Kultur sowie den Austausch der beiden Länder fördern. Der Name leitet sich vom Spanischen Begriff "encontrar" ab, das so viel wie "finden" oder "treffen" bedeutet.

Freitag ist "encontrar"-Tag: Man trifft einander zum Spanischlernen. Eines der Spanienkinder, das an dem ovalen Holztisch der Spanischlehrerin Elena Kislinger, sitzt, ist Edith Willinger. Jene Frau, die als Mädchen nach Santander geschickt wurde und gerade davon erzählt, wie sie bei der Erstkommunion das erste Mal vor einer Fotografenlinse saß.
"Wie eine kleine Braut"
Die strahlende Edith in Weißer Spitze bildet auf einem Schwarz-Weiß-Foto das Zentrum einer in Reih und Glied stehenden Mädchenklasse. Ernste Gesichter ragen zwischen weißen Krägen aus dunklen Schuluniformen heraus. "Das war wenige Tage, bevor ich zurückfuhr. Ich hab ausgesehen wie eine kleine Braut."

Gleich viermal war Monika Kurzbauer als Kind "unten". Warum sie richtiggehend süchtig nach Spanien wurde? "Der Westbahnhof war zerstört, schwarz und dunkel. Und dort war alles hell und bunt", fasst sie zusammen.
Die 72-Jährige zieht es immer noch alle drei Jahre in das Land, in dem sie ihre ersten Orangen und Bananen aß. "Wir haben hineingebissen, ohne sie zu schälen", erinnert sich Kurzbauer, lacht und zieht die Nase kraus. "Wäh, das kann man ja gar nicht essen, haben wir gerufen!"
Die meisten Lebensmittel hätten ihr am Anfang Bauchweh bereitet. "Wir waren ja nichts gewöhnt", sagt die lebhafte Dame. Doch noch heute schwärmt sie von der Paella ihrer Pflegemama. Nach wie vor hält Kurzbauer Kontakt zu ihren Pflegeschwestern aus Torrevieja. "Obwohl man schon sagen muss, dass die Spanier sehr schreibfaul sind." Aber auch viele "Austriacas" verlernten die Fremdsprache so schnell, wie sie sich diese vor Ort angeeignet hatten.
"War nicht viel in der Schule"
Faul war auch Hermann Auzinger während seines Spanien-Aufenthalts. "Ich war nicht viel in der Schule", erinnert sich der 76-Jährige, der in Logroño in der Provinz La Rioja bei einer reichen Arztfamilie regelrecht residierte. In Wien war damals für vier Personen ein Zimmer mit Küche und Klo am Gang Standard. Wem es besser ging, der verfügte vielleicht noch über ein Kabinett.
Hermann Auzinger lebte beim Erholungsaufenthalt in einer richtigen Villa "mit Salon und offenem Kamin", Köchin und Zimmermädchen. Die meiste Zeit habe er aber draußen verbracht. "Mit meinen Haberern". Ein Foto zeigt den schmalen Hermann, das Haar zum Seitenscheitel gegelt, beide Arme eingehakt bei mehr als einen Kopf größeren jungen Männern, die den Gehsteig entlangschreiten. Alle stecken in Sakkos und Hemden.
Schicke Kleidung war es auch, die Margarete Tucek in Orihuela besonders faszinierte. "Eine Bekannte der Pflegefamilie war Schneiderin. In ihrem Salon habe ich die meiste Zeit verbracht", erinnert sich die 75-Jährige. "Zwischen all den Stoffen habe ich mich sehr wohlgefühlt." Sie wollte dann Handarbeitslehrerin werden. "Aber wegen meiner schlechten Sehkraft hat man mir abgeraten", sagt sie. Ihre spanische Pflegemutter, so erinnert sich die Wienerin, interessierte sich nicht sonderlich für sie.
Manche Pflegeeltern wollten ihr Ziehkind hingegen adoptieren. Christine Maisel-Schulz berichtet in ihrer Doktorarbeit, dass es vereinzelt auch dazu kam. Edith Willingers Pflegevater in Santander hätte seine Ziehtochter gerne adoptiert. "Mein leiblicher Vater war sehr eifersüchtig, er hätte das nie zugelassen", sagt sie. So sahen sie einander viele Jahre nicht.
Doch als sie 18 Jahre alt war, passierte etwas Aufregendes. Ein Vertreter der Veitscher Magnesitwerke in der Steiermark suchte sie auf. Er bot an, sie quer durch Europa nach Santander zu fahren. Er hatte geschäftlich dort zu tun gehabt. Beim Tanken kam er mit einem Mann ins Gespräch. Ihrem Pflegevater. Der habe den Österreicher gebeten, sie zu suchen, so schildert es die damals Gesuchte.
"Und so geschah es dann auch", sagt sie schmunzelnd. Das Wiedersehen mit der Familie, dem Ort, dem Meer "war unbeschreiblich", sagt Willinger. "Ich dachte: Wäre ich doch nur in Spanien geblieben." (Gudrun Springer, derStandard.at, 24.4.2015)