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Flüchtlinge wissen um die Gefahr.

Foto: ap/Mauro Buccarello

Vor einem Jahr wollte ich einen Schleuser bezahlen, um mit einem Boot nach Europa zu gelangen. Geboren als palästinensischer Flüchtling, wurde ich vor etwa drei Jahren zum zweiten Mal Flüchtling. Meine Familie und ich mussten vor dem Krieg in Syrien in den Libanon fliehen. Unser Zuhause war zur Kampfzone geworden.

Viele Europäer denken, wir Flüchtlinge wüssten nicht, dass die Überfahrt tödlich sein kann, wir würden die entsetzlichen Bilder der Leichen nicht sehen. Aber ich hatte die Nachrichten verfolgt und gesehen, dass mehr als 500 Menschen im Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa starben.

Die Gefahr ist gegenwärtig

Ich kannte die Statistiken, ich wusste um die Gefahr. Ich hatte sogar Freunde verloren, die nun zu den "Flüchtlingen ohne Gesicht und ohne Namen" – wie sie in den Medien genannt werden – zählen. Aber wie viele syrische Flüchtlinge, die – zusammen mit Eritreern – mehr als die Hälfte der Bootsflüchtlinge im Jahr 2014 ausmachten, dachte ich, das sei meine einzige Chance.

Meine Freunde und meine Familie kennen mich als einen unverbesserlichen Optimisten. Ich liebe das Leben, ich liebe die Menschen. Im Libanon begann ich, anderen Flüchtlingen zu helfen. Dann hielt ich all das Leid nicht mehr aus. Ich hatte die Hoffnung verloren. Vor dem Krieg in Syrien lag mein ganzes Leben vor mir, eine vielversprechende Zukunft. Ich hatte studiert, Geld, einen guten Job als Ingenieur.

Ich bin dann doch nicht an Bord des Schlepperboots gegangen – nach langen Diskussionen mit meiner Familie, meinen Freunden. Heute bin ich immer noch im Libanon, bilde andere freiwillige Helfer aus und unterstütze so Menschen, die wie ich fliehen mussten. Denn Flüchtlinge brauchen dringend humanitäre Unterstützung. Sie waren, wie ich selbst, Ingenieure oder Ärzte, Lehrer, Bauern, Angestellte und führten ein ganz normales Leben.

Letzte Chance Europa

Obwohl wir Europa sehr schätzen, sehen wir den Kontinent nicht als Himmel auf Erden. Die meisten Flüchtlinge träumen davon, in ihre Heimat Syrien zurückzukehren. Wir Menschen sind doch alle in dieser Hinsicht sehr ähnlich: Wir lieben unsere Freunde, unsere Familien, unser Zuhause. Das ist nichts, was man mal so eben aufgibt. Aber ohne Frieden scheint Europa die letzte Chance zu sein.

Ich schaue Nachrichten, verfolge die Diskussionen nach den Tragödien der vergangenen Tage. Politiker sprechen über die Notwendigkeit, dass die EU ihre Rettungsmissionen wieder aufnimmt; dass Flüchtlinge bereits vor dem Antritt einer möglicherweise tödlichen Überfahrt Asyl beantragen können. Es berührt, dass so viele Menschen weltweit ihre Solidarität, ihr Mitgefühl bekunden. Dass es nicht egal ist, was mit uns passiert. Sie verstehen, dass ich mir es nicht ausgesucht habe, als palästinensischer Syrer geboren zu werden. Genauso wenig, wie Europäer sich dafür entschieden haben, als Europäer zur Welt zu kommen. Ich wünsche meine Situation niemandem. Aber ich hoffe, dass wir diese Tragödien zum Anlass für Veränderung nehmen können.

Die große Hoffnung aller Flüchtlinge

Es ist nur ein paar Generationen her, dass Europäer ähnliches Leid erfahren haben. Viele Menschen in Europa waren selbst Flüchtlinge, als sie jung waren. Sie waren der Anlass für völkerrechtliche Projekte wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention.

Humanitäre Hilfe und eine andere Flüchtlingspolitik: Das ist alles wichtig. Aber letztendlich liegt die große Hoffnung aller Flüchtlinge darin, nicht mehr Flüchtling genannt werden zu müssen und an den Ort zurückzukehren, den sie am meisten lieben: ihre Heimat. Frieden ist und bleibt die einzige Lösung. (Ali Sandeed, derStandard.at, 24.4.2015)