Historiker und Sportwissenschafter erklärt den Sport.

Foto: Robert Newald

Standard: Gibt es zur österreichischen Sportidentität seriöse, umfangreiche Forschungen?

Müllner: Es gibt Ansätze, aber noch viel größere Lücken. Sport wird zwar von immer mehr Personen als seriöses Forschungsfeld betrachtet. Aber über lange Zeit, bis in die 90er, warst du eher ein Exote, wenn du dich mit Sportthemen und sportpolitischen Themen beschäftigt hast. Deshalb gibt's wenige Resultate. Wir müssen uns nur die akademische Situation ansehen - es gibt zu wenige Professuren, kaum Ressourcen. Sportforschung ist massiv unterrepräsentiert, auch an der Uni Wien.

Standard: Wie und wie rasch hat sich der Sport in Österreich nach dem Krieg entwickelt?

Müllner: Sport ist unter anderem auch Unterhaltung, Zeitvertreib, Ablenkung. Ganz ähnlich wie Kultur. Das braucht der Mensch. Nicht umsonst wurde in Österreich gleich nach dem Krieg wieder die Oper aufgebaut, nicht umsonst wurde gleich wieder organisiert Fußball gespielt.

Standard: Gab es, sportlich gesehen, eine Stunde null?

Müllner: Die gab es insofern, als es Abgrenzung gebraucht hat, gegenüber dem Nationalsozialismus, gegenüber Deutschland. Der Nationalsozialismus hat den Sport ganz stark für politische Ziele eingesetzt. Das wollte man auf keinen Fall mehr. Aber es gab auch ein großes Bedürfnis nach Erfolg, nach Selbstdarstellung, nach Geschichten, die ein gemeinsames Wir erzeugen.

Standard: Und diese Abgrenzung hat tatsächlich funktioniert?

Müllner: Wie in anderen Bereichen auch. Die Opferthese ist ja eine der Säulen des österreichischen Staates. Man hat es geschafft zu sagen: "Das war der NS-Sport, aber das war nicht unserer, jetzt machen wir dort weiter, wo wir vor 1938 waren." Das konnte Deutschland natürlich nicht. Österreich hat es sich ganz gut gerichtet. Deutschland als der Täter schlechthin war nicht bei den Olympischen Spielen 1948 in London und St. Moritz dabei, Österreich hingegen schon.

Standard: Umso wichtiger war für Deutschland der Fußball-WM-Titel 1954. Ist Toni Sailer das österreichische Äquivalent?

Müllner: Genau. Der Triple-Olympiasieg 1956 hatte in dieser Phase eine ähnliche Funktion wie der deutsche Fußballtriumph. Österreich hat sich als Nation gefühlt, und für viele Menschen war dieses Gefühl wieder positiv besetzt. Der Sailer schließt sozusagen die Phase des Wiederaufbaus symbolisch ab. Die Erfolge einer herausgehobenen Figur werden als Erfolge Österreichs angesehen. So funktioniert Sport, so funktionieren Identitätsdiskurse im Sport.

Standard: Ist nicht der von Olympia 1972 ausgeschlossene Schranz die österreichischere Figur?

Müllner: Karl Schranz hat auch durch die TV-Verbreitung mehr Aufmerksamkeit erzielt. Diese Bilder hängen im Gedächtnis, weil sie leichter zu wiederholen sind. Das "Österreichischere" an ihm ist die absolute Verkörperung der Opferthese. Als "Opfer" des IOC und von dessen greisem Präsidenten Brundage nimmt er in fast erschreckender Weise Aspekte der Waldheim-Story vorweg. Diese kollektive Dichte ist in Österreichs Sportgeschichte einzigartig. Österreich hat eine Tendenz, dieses Verlierertum zu zelebrieren, Niederlagen zu Siegen umzudeuten.

Standard: Die Fußball-WM 1978 war ja letztlich auch kein wirklicher Triumph Österreichs.

Müllner: Na ja, die WM war ein siebenter Platz, nicht schlecht, aber da muss man eigentlich schon nachschauen, weil man nicht sicher ist. Córdoba, das 3:2 gegen Deutschland in einem für Österreich bedeutungslosen Spiel, war die Emotionsgeschichte.

Standard: Sind die Österreicher nach wie vor ein Volk der Skiläufer?

Müllner: Ja. Wenn es eine nationale bewegungskulturelle Form gibt, ist es der Skilauf, immer noch. Die Leute wissen, wie man auf einer Kante steht, was ein Tal-Ski ist. Vom argentinischen Trainer César Luis Menotti gibt es ein schönes Zitat: "Fußball aus der Tiefe des Volkes." Wenn im österreichischen Sport etwas aus der Tiefe des Volkes kommt, so ist es der Skilauf.

Standard: Passt das Carven genauso gut zu Österreich, wie das Wedeln gepasst hat?

Müllner: Wenn man in Klischees denkt, war das Wedeln integraler Bestandteil des Musikland- und Walzersignets. Das ist ganz nett, aber heute im Musealen anzusiedeln. Doch dieses Bild von Hermann Maier in Nagano mit den Skiern über dem Kopf und diesem unglaublichen Luftstand, das ist eine moderne ikonografische Darstellung des Österreichischen. Welche Botschaften da drinnenliegen in Verbindung mit seinem knapp darauf folgenden Olympiasieg! Highspeed, Technik, Risikobereitschaft, Leistungsfähigkeit, Begabung. Der Skisport ist in der Moderne angekommen. Und hier kann Österreich mithalten.

Standard: Kann der Fußball in Österreich werden, was der Skisport war oder ist?

Müllner: Wenn Österreich, sagen wir, in ein EM-Semifinale kommt, wäre das ein emotionaler kollektiver Anker, an dem man festmachen könnte, Österreich ist doch eine Fußballnation. Da gibt es eine große Sehnsucht. (Fritz Neumann, Sigi Lützow, DER STANDARD, 27.4.2015)