London - Der Eurovision Song Contest ist nicht nur ein Unterhaltungsevent, sondern auch Gegenstand der Wissenschaft. Dies stellte am Freitag eine Tagung der European Broadcasting Union (EBU) in London unter Beweis. "Es geht niemals nur um die Musik", konzedierte dabei die US-Professorin Karen Fricker. Europa sei eine Idee ohne feste Grenzen: "Aber der ESC materialisiert diesen abstrakten Raum alljährlich."

Die Charakteristik des Song Contests sei dabei speziell, unterstrich Brian Singleton, Professor in Dublin. Im Sport unterstütze man beispielsweise als Däne in der Regel nicht das französische Fußballteam, beim ESC sei dies möglich. Insofern habe sich das Bewusstsein hier erweitert: "Ja, wir fühlen uns als Europäer, aber in einem wesentlich breiteren Ansatz."

Auch aus feministischer Sicht sei die Bedeutung des ESC nicht zu unterschätzen, betonte BBC-Journalist Paddy O'Connell: "Sonst bleibt nur der Sport - also Männer in kurzen Hosen. Und die Politik - also Männer in Anzügen. Durch den Song Contest wird den Frauen auch eine europäische Bühne geboten - sonst ist da nur Angela Merkel erlaubt."

Nationsbewusstsein

Gerade für die Staaten des einstigen Ostblocks habe der Song Contest eine große Rolle bei der Bildung eines Nationenbewusstseins gespielt, analysierte Paul Jordan, der seine Doktorarbeit zum Thema verfasst hat. So habe etwa Estland nach seinem Sieg 2001 die Ausrichtung des Bewerbs genutzt, um den baltischen Staat als junges, europäisches Land zu präsentieren, das sich vom sowjetischen Joch befreit habe. "Eurovision 2002 war eine Plattform für National Branding", also das Staatenmarketing, so Jordan. Ähnliches habe für die Ukraine nach ihrem Triumph 2004 gegolten, wo die Veranstaltung als Aufbruch des Landes in Richtung EU präsentiert wurde.

Der australische Historiker Dean Vuletic, der seit 2013 an der Universität Wien das Forschungsprogramm "Eurovision: A History of Europe through Popular Music" sowie eine gleichnamige Lehrveranstaltung betreibt, zeigte sich erfreut, wie Österreich seine Einstellung zum ESC durch Conchita Wursts Sieg verändert habe: "Man hatte immer den Eindruck einer autistischen Nation - oder besser einer traumatisierten Nation, die die Bürde der Geschichte zu tragen hat." Zu bedauern sei, dass Länder wie die Slowakei, Bosnien-Herzegowina, Kroatien oder die Türkei heuer in Wien nicht dabei seien. Zugleich dürfe man die politischen Implikationen des ESC auch nicht zu hoch einschätzen. "Wir lesen den Song Contest immer als Metapher für die europäische Einigung. Ich glaube, wir sollten damit nicht übertreiben", meinte Vuletic.

Unterschiede bei Marktanteil

Dass es um die Musik gehe, betonte auch Österreichs Vorjahressiegerin Conchita Wurst bei einem Interview im Rahmen der Konferenz. Deshalb hoffe sie sehr, dass sich die Szenen der Vorjahre in Wien nicht wiederholen, wonach die russischen Teilnehmer aus politischen Gründen von Teilen des Publikums ausgebuht wurden: "Man kann sie nicht für das verantwortlich machen, was in Russland passiert. Sie sind Künstler und haben nichts mit diesen lächerlichen Gesetzen zu tun." Notfalls müsse sie zur strengen Oma mutieren und das Publikum ermahnen. Dass es dem ORF gelingen wird, das Event auszutragen, glaubt auch Andi Knoll, der als ESC-Urgestein an einer Podiumsdiskussion bei der Tagung teilnahm: "Ich habe das Gefühl, dass es gut wird. Wenn Du mit Leuten in meinem Unternehmen sprichst, kommt zwar wie immer noch ein "Aber" - diesesmal lautet das "Aber" jedoch: Es ist unglaublich anstrengend, ABER es wird toll."

In jedem Falle werden wieder Länder rund um die Welt die Show im Mai aus Wien verfolgen. Innerhalb der einzelnen Länder sei der Marktanteil bei der Übertragung des Finales dabei höchst unterschiedlich, berichtete EBU-Analystin Francesca Cimino. So habe der durchschnittliche Marktanteil im Vorjahr zwischen 99 Prozent in Island und acht Prozent in Georgien variiert. Insgesamt liege der Marktanteil bei allen mehr als 40 übertragenden europäischen Nationen bei 37 Prozent, wobei die Frauen mit 39 Prozent Marktanteil leicht vor den Männern (35 Prozent) liegen. Auch sehen etwas mehr Junge (42 Prozent Marktanteil) das Event, gegenüber 36 Prozent bei den Senioren. (APA, 24.4.2015)