Revolutionärin mit bestimmtem Auftreten: Polina (Daria Ekamasova) in "Angels of Revolution".

Foto: Crossing Europe

Der Blick auf den europäischen Osten ist beim Crossing Europe Filmfestival in Linz seit jeher konzentrierter als bei vergleichbaren heimischen Veranstaltungen. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Hemmschwelle des Publikums bei Kino aus diesen Regionen immer noch etwas größer ist. Wie weckt man also Neugierde? Etwa mit der diesjährigen Retrospektive des Ukrainers Sergej Loznitsa, der in den letzten Jahren zu einem der meistbeachteten Filmautoren aufgestiegen ist. Diese wurde am Samstag noch durch eine Masterclass ergänzt, bei der der Regisseur entspannt und auskunftsfreudig über seine Arbeitsweise gesprochen hat.

Im Hauptprogramm finden sich dagegen Filme aus Georgien, Rumänien und gleich mehrere aus Russland. Einer der faszinierendsten darunter war Angels of Revolution von Aleksej Fedorchenko, der mit seinem "period piece" eine Umbruchszeit imaginiert, so ideenreich wie man es im Kino schon länger nicht mehr sehen konnte. Der russische Filmemacher bleibt seiner Vorliebe für exotische Ethnien treu und führt nach Sibirien im Jahr 1934, wo es zum Zusammenprall von samojedischen Nomadenvölkern mit den Aposteln der sowjetischen Kulturrevolution kommt. Allerdings interessiert er sich weniger für die Konflikte, als vielmehr für die Anstrengungen einer künstlerischen Elite, die daran glaubte, mit avantgardistischen Interventionen noch die entlegensten Winkel der Erde von den Vorzügen einer kommunistischen Gesellschaft überzeugen zu können.

Wes Andersons Russlands

Fast möchte man Fedorchenko als den russischen "Wes Anderson" bezeichnen, so detailverliebt legt er die Ausstattung an, so penibel lässt er Theateraktionen, Filmexperimente oder Bestattungsbehelfe wie Särge in roten Sternformen rekonstruieren. Verbürgt sind diese schillernden Artefakte offenbar beinahe alle, auch wenn sie, im Fall von mit Lederriemen zum Fliegen gebrachten Hunde, beinahe satirisch ausfallen. Angels of Revolution ist selbst wie eine farbenprächtige Collage konstruiert, welche die Übersetzungsschwierigkeit von Kunst in gesellschaftliche Praxis mit einem vielleicht schon in der Sache liegenden Humor zum Thema macht. Das österreichische Filmmuseum zeigt die Arbeit am 1. Mai auch als Wien-Premiere.

Auch die Auseinandersetzung mit den Verwerfungen der Gegenwart gehört schon immer zum Programm des Festivals: Am Eröffnungsabend fand die Schande Europas, das Sterben von Tausenden beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, überraschend deutlich Niederschlag in den Reden.

Flucht und Überfahrt

Im Kino setzte sich diese Thematik in einem bemerkenswerten Beitrag aus Frankreich fort: Die französische Filmemacherin Nathalie Nambot und der Tunesier Maki Berchache, der selbst nach Frankreich emigrierte, haben diese Erfahrung in ein dichtes filmisches Essay mit dem Titel Brule la mer/ Burn The Sea übertragen. Bild- und Tonebene bleiben zunächst getrennt, Meer brandet auf und tost, während einer seine Flucht und Überfahrt schildert, die in schwierigen Etappen von Lampedusa bis nach Paris führt, wo der Uberlebenskampf auf anderen Ebenen noch lange nicht zu Ende ist.

Brule la mer fügt dieser Geschichte eines "tunesischen Bruders", der "Geschichte von uns allen", dann weitere Perspektiven hinzu - etwa jene des jungen Mannes, dessen Aufgabe in Tunesien es war, die Fremden aus Frankreich und anderen europäischen Ländern willkommen zu heißen und der nun als Fremder in Paris vergeblich auf über Jahre geknüpfte Kontakte setzt. Oder jene der Kämpfe der Papierlosen um staatliche Anerkennung in Frankreich, mit denen sich Allianzen bilden lassen. Ein vielstimmiger, mehrsprachiger Bericht aus der unmittelbaren Gegenwart, der letztlich auch davon handelt, dass wir Festungsbewohner uns aus dieser Geschichte nicht herausschummeln können. (Dominik Kamalzadeh, Isabella Reicher, DER STANDARD, 26. 4. 2013)