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Sergej Loznitsa: "Es ist unmöglich anzunehmen, dass man die Ukraine in irgendeiner Weise okkupieren kann. Die Menschen werden es nicht hinnehmen."

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Zerstörung im Dorf Oktiabrskij nahe dem Flughafen Donezk.

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STANDARD: Im Westen hört man oft, in der Ukraine herrsche Bürgerkrieg, es gebe eine "Ukraine-Krise". Wie benennen Sie die Situation?

Loznitsa: Niemand weiß, was zu tun ist. Und wenn eine Sache nicht beim Namen genannt wird, entsteht eine Situation, die Kafka sehr gut beschrieben hat: Es entsteht eine Kluft zwischen dem Geschehen und dessen Beschreibung. Das heißt: Die Sprache entspricht nicht dem Wesen des Geschehens. Das sind ziemlich tragische Momente.

STANDARD: Und wie geht die Ukraine damit um?

Loznitsa: Die Ukraine soll sich gegenüber jedem Soldaten verantwortlich zeigen – und gegenüber der Familie jedes Soldaten. Aber der Staat ist nicht bereit, diese Verantwortung zu tragen. Mir ist Folgendes nicht klar: Ein Krieg ist im Gange, aber es gibt Handel, Flugzeuge fliegen, es gibt Kommunikation. Wir können dem Feind die Hand geben und über den Gaspreis sprechen. Ich bin kein Politiker, natürlich, aber ich denke, die Wahrheit ist nur dort, wo man sich nicht fürchtet, sie auszusprechen. Dazu sind aber starke Persönlichkeiten nötig, die nicht an sich, sondern an die anderen Menschen denken.

STANDARD: Sie haben für Ihren Film sehr viel Zeit auf dem Maidan verbracht. Hat Sie das verändert?

Loznitsa: Mich haben die Menschen am Maidan erstaunt. Die Warmherzigkeit, Feinfühligkeit, Güte, Selbstaufopferung, Selbstorganisation, die Liebe zueinander. Plötzlich ist Kreativität in dieser Atmosphäre entstanden. Ständig erklangen Lieder. Es gab viel Humor. Plötzlich wurden die Figuren auf der politischen Bühne zu Parodiepuppen, zu einem Element der Folklore. In diesem Sinn gab es dort viel Mittelalterliches. Auf der einen Seite standen Kämpfer, auf der anderen Seite standen Kämpfer. Es gab Barrikaden. Man schrie einander zu: "Kommt zu uns rüber!" Ich musste an alte Samuraifilme denken.

STANDARD: Wenn Sie jetzt auf den Maidan zurückblicken, sind sie enttäuscht?

Loznitsa: Ich sage Ihnen, was mich enttäuscht hat, nach einem Jahr und mehreren Monaten: Ich spreche vom öffentlichen Verbrechen, von der Erschießung von Menschen. Diese Verbrechen werden nicht öffentlich untersucht – oder höchstens ungenügend. Niemand wurde zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen. Dieses Verbrechen war eines gegen das Volk, gegen die Menschen. Es ist unverständlich, warum mit der Untersuchung dieser Verbrechen gezögert wird.

STANDARD: Warum ist es bis jetzt nicht geschehen?

Loznitsa: Diese Frage geht nicht an mich, sondern an die jetzige Regierung. Ich weiß, dass sehr viele Aktivisten einen Prozess fordern.

STANDARD: Verschanzt man sich da zu sehr hinter dem Krieg?

Loznitsa: Es ist eine sehr bequeme Ausrede: "Pereat mundus, fiat justitia." Es geschehe Gerechtigkeit, möge auch die Welt darüber zugrunde gehen.

STANDARD: Versteht Westeuropa eigentlich, was in der Ukraine vorgeht?

Loznitsa: In Polen gibt es ein deutliches und klares Verständnis dafür, auch in Litauen. Was Deutschland und Frankreich betrifft: Die sind einfach weit entfernt. Deren Reaktionen nach denke ich nicht, dass sie die Vorgänge wirklich verstehen.

STANDARD: Sie meinen den Prozess der "Entkommunisierung"?

Loznitsa: ... der eben nicht geschehenen "Entkommunisierung". In Deutschland gab es eine Entnazifizierung. Ähnliches fand in den meisten postsowjetischen Ländern nicht statt. Und der Krieg entsteht nicht einfach so, weil sich zwei Nachbarn wegen irgendwelcher Wiesen, wegen irgendwelchen Territoriums verkracht haben. Es geht um prinzipielle Dinge. Es ist der Krieg der Ideen. Es ist unmöglich anzunehmen, dass man die Ukraine in irgendeiner Weise okkupieren kann. Aus einem einfachen Grund: Die Menschen werden es nicht hinnehmen.

STANDARD: Sprechen wir über den Donbass ...

Loznitsa: Dort hat sich eine einzigartige Situation herausgebildet. Sie erinnert einerseits an die Memoiren von Menschen aus den Jahren 1917 bis 1920; an das Archiv der Russischen Revolution. Wenn Sie die Erinnerungen der Menschen dieser Zeit lesen, so sehen Sie genau diese Ereignisse. Sie wiederholen sich praktisch. Nur mit einem anderem Waffentyp. Andererseits, infolge dessen, dass diese Ereignisse eine Wiederholung sind, verwandelt sich das Ganze in eine "Tragifarce", eine extreme Form von Tragikomödie. Es sind hier Menschen, die etwas zu verteidigen versuchen, die aber nicht wissen, was sie eigentlich verteidigen wollen. Sie kopieren jene Vorstellung über die sowjetische Realität, die sich bei ihnen aus den sowjetischen Filmen, aus den sowjetischen Büchern gebildet hat. Eine propagandistische Hülse, eine Kopie, die zur Parodie wird. Und diese Groteske und diese Tragik dieser Situation interessieren mich. Sie ist einzigartig. Es gibt verschiedene Kriege. Dieser ist einzigartig, eben deshalb, weil er parodistisch ist.

STANDARD: Können Sie sagen, wie es dem Filmregisseur Oleh Senzow geht?

Loznitsa: Oleh sitzt weiterhin im Gefängnis. Es ist empörend. Vor knapp über elf Monaten hat man ihn auf der Krim gefasst und nach Moskau gebracht. Es ist eine furchtbare Barbarei, öffentliche Folter. Es sind Stalin-Methoden, wie man sie früher anwendete. Es gibt dort keine Rechtspflege, die Macht inszeniert sich selbst auf diese Art und Weise. Und wir sind einfach hilflos. Das ist ein demonstratives Verbrechen. Doch Oleh ist wenigstens ein bekannter Mann. Aber wie viele Menschen in Russland, wie viele Unbekannte werden dieser Willkürjustiz aus verschiedensten politischen oder wirtschaftlichen Gründen ausgesetzt?

STANDARD: Wie ist Ihre Prognose?

Loznitsa: Es ist sehr kompliziert, etwas vorherzusagen. Der Krieg wird weitergehen. Ich sehe nichts, was ihn aufhalten könnte. Keine Sanktionen werden helfen. (Ruslana Berndl, DER STANDARD, Langversion, 28.4.2015)