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Heidelberg - Nervenzellen schützen sich nach einer Verletzung mit einem bestimmten Protein vor chronischer Überempfindlichkeit. Ist das Protein dagegen in zu geringer Menge vorhanden, lösen bereits harmlose Reize - wie ein leichter Druck auf der Haut - Schmerzen aus. Diesen Schlüsselmechanismus der sogenannten Neuropathie haben Wissenschaftler aus Heidelberg, Israel und den USA in Laborversuchen entdeckt. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden nun im Fachjournal "Nature Medicine" veröffentlicht.

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: Ein Medikament gegen Atemwegserkrankungen wirkt auf diesen Mechanismus ein und lindert die Schmerzüberempfindlichkeit. "Damit gibt es erstmals einen Ansatzpunkt für gezielt wirkende Medikamente gegen diese häufig therapieresistente Schmerzform", sagt Mitautorin Rohini Kuner vom Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg.

Noch keine befriedigende Therapie

Nervenschäden bei Diabetes oder Multipler Sklerose, Bandscheibenvorfälle beziehungsweise Nervenverletzungen, etwa nach einem Unfall, hinterlassen meist bleibende Spuren im Nervensystem und verursachen häufig chronische Schmerzen. Selbst wenn die ursprüngliche Verletzung geheilt ist, reagieren die Nervenzellen mit ihren Ausläufern in Armen, Beinen und Haut empfindlich auf leichte Reize wie Berührungen.

Bislang gibt es keine befriedigende Therapie für chronisch schmerzkranke Patienten: Bei rund der Hälfte bleiben die Schmerzen trotz Therapie weiter bestehen oder die verfügbaren Medikamente können aufgrund der zahlreichen Nebenwirkungen nicht ausreichend hoch dosiert werden.

Die Suche nach den molekularen Hauptakteuren bei Neuropathien ist schwierig: Bei einer Verletzung am Rückenmark verändert sich die Aktivität hunderter Gene und Proteine, die für Reparatur- und Heilungsprozesse, die Schmerzempfindlichkeit zur Schonung der verletzten Nervenzellen oder auch das Absterben von Nervenbereichen benötigt werden. "Es ist extrem schwierig, in diesem komplexen Zusammenspiel genau die Faktoren auszumachen, die unmittelbar mit dem Schmerzempfinden zusammenhängen", so Kuner.

Schmerzstiller: Medikamente gegen Lungenentzündung

Mit Hilfe einer Teststrategie gelang es den Kooperationspartnern der Hebräischen Universität in Jerusalem, Israel, und der Harvard Medical School in Boston, USA, gemeinsam mit dem Heidelberger Forscherteam, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden. Dabei handelt es sich um das Protein SerpinA3N, das im Tierversuch den wesentlichen Unterschied zwischen anhaltender Schmerzüberempfindlichkeit und normalem, wieder abklingendem Wundschmerz nach einer Nervenverletzung ausmachte.

Während ein hoher Spiegel an SerpinA3N die Mäuse vor Überempfindlichkeit und Neuropathie schützte, hatte sein Fehlen beziehungsweise ein Mangel eine anhaltend höhere Empfindlichkeit gegenüber leichten Druckreizen zur Folge.

Als Faktor, der die Überempfindlichkeit auslöste, erwies sich das Protein Leukozyten-Elastase, das von bestimmten Immunzellen, den Leukozyten, gebildet wird. Es wird von SerpinA3N, wenn dieses in ausreichender Menge vorhanden ist, gehemmt. "Die Leukozyten-Elastase kennt man von Entzündungsreaktionen - etwa bei Atemwegserkrankungen. Dass es eine so wichtige Rolle bei Nervenschmerzen spielt, war eine Überraschung", sagt Lucas Vicuna, Erstautor der Studie.

Neue Therapieansätze möglich

Die Forscher konnten zeigen, dass das Protein in diesem Fall nicht von Leukozyten stammt, sondern von anderen Immunzellen, den sogenannten T-Zellen, die in das verletzte Nervengewebe einwandern. "Auch dieser Mechanismus war vorher noch völlig unbekannt", so Vicuna. Der Wissenschaftler hofft nun, aus diesen Ergebnissen neue neue Ansatzpunkte für Therapien ableiten zu können, bei denen die Leukozyten-Elastase oder eventuell auch die Einwanderung der T-Zellen gehemmt werden.

"Für beide Wege befinden sich bereits Wirkstoffe in der Entwicklung, allerdings zur Behandlung anderer Erkrankungen", sagt Kuner. So kam in der
Studie ein Medikament zum Einsatz, das in Japan zur Therapie bei Lungenentzündungen zugelassen wurde und wie SerpinA3N die Leukozyten-Elastase blockiert. (red, derStandard.at, 28.4.2015)