Die vierte Auflage der Amaze Berlin holte spannende Experimente auf die Bühne: zehn Spiele, die das Festivalpublikum begeisterten

Vom 22. bis 25. April fand zum vierten Mal das Independent Games Festival Amaze Berlin statt, das den globalen Games-Underground repräsentiert. Dazu gehört die stilvoll räudige, graffiti-übersäte Location am Ufer der Spree ebenso wie das viertägige Programm des Festivals, das sich trotz der kommerziellen Höhenflüge des neuen "Indie-Game-Kommerzes" selbstbewusst als Sprachrohr einer nach wie vor störrischen und anarchischen Subkultur begreift.

Aus über 23 Ländern kamen Designer, Vordenker und Gäste nach Berlin, 5000 Besucher probierten sich an den über 60 spielbaren Exponaten der Exhibition oder nahmen an den 52 Talks und Workshops teil. Hier sind die Preisträger der Amaze Awards 2015 und eine Auswahl der spannendsten Spiele, die es auf der Amaze Berlin 2015 zu sehen gab.

Line Wobbler

Schade, dass wohl kaum ein Spieler zu Hause in den Genuss dieses einzigartigen Spiels kommen wird: Der "one-dimensional dungeon crawler" "Line Wobbler", ein per Selfmade-Joystick auf einer mehrere Meter langen LED-Schlange über Kopf spielbares Experiment, erwies sich als Publikums- und Juryliebling - ein "WTF Award" und der begehrte "Audience Award" wurden am Abschlussabend an das britische Unikat vergeben. Die überraschend präzise Steuerung durch den wackeligen Schuhlöffeljoystick und das minimalistische Display der leuchtenden LED-Linie machten "Line Wobbler" zu einer der zentralen Attraktionen der Ausstellung auf der Amaze 2015.

Robin Baumgarten

Cunt Touch This

Das für den Amaze Award nominierte Tablet-Spiel des Copenhagen Game Collective ist teils Spiel, teils provokante Installation: Per Touch-Steuerung können Spielerinnen und Spieler eine Auswahl in Schwarzweiß gezeichneter weiblicher Genitalien farbig bemalen und dabei nach "erogenen" Zonen auf dem Bildschirm suchen. Das Gefühl der Peinlichkeit beim Ausprobieren des Games-Experiments in der Öffentlichkeit ist dabei beabsichtigter Teil der Versuchsanordnung.

Foto: Rainer Sigl

Pixel Ripped

Der Gewinner des "Other Dimensions"-Awards der Amaze Berlin 2015 spielt auf mehreren Ebenen mit den Möglichkeiten, die VR-Geräte wie das Oculus Rift eröffnen: In der immersiven 3D-Welt des Spiels der brasilianischen Designerin Ana Ribeiro können Spielerinnen und Spieler die Geschichte des Mediums nacherleben, wenn sich klassische Pixel-Legenden wie "Megaman" von ihren 2D-Plattformen erheben und in den (Schul-)Alltag der Protagonistin hereinbrechen. Ein schönes Experiment, das klassische Gameskultur mit den Möglichkeiten der Virtual-Reality-Zukunft vermischt.

Pixel Ripped

Curtain

Dass das persönliche, kurze Spiel "Curtain" von der prominenten Jury des Festivals mit dem "Most Amazing Game"-Award der Amaze geehrt wurde, ist ein Statement: In intimen, autobiografischen Spielen wie diesem lässt sich eine Zukunft des Mediums als künstlerisches, ausdrucksstarkes Medium schon jetzt erkennen. In Lo-Fi-Pixeloptik erzählt "Curtain" eine intime Geschichte von Missbrauch, Liebe und Vertrauen im Umfeld einer Glasgower Punkband.

Foto: Hersteller

Crawl

Local-Multiplayer-Spiele waren schon seit Beginn ein zentrales Anliegen der Amaze - kein Wunder, erfreuten sich die unter großem Hallo im Rahmen des Festivals gespielten Titel doch stets größter Publikumsbegeisterung. Dieses Jahr errang "Crawl" des australischen Studios Powerhoof den begehrten "Human-Machine Award" für das beste Multiplayerspiel. Im ungewöhnlichen Fantasy-Spiel wechseln sich die Spieler in der Rolle der furchtlosen Helden und der gegen diesen antretenden Monster ab - ein Erlebnis für gesellige Spielerrunden.

PowerhoofTV

Cyborg Dating

Man braucht gar nicht unbedingt ein teures Oculus-Rift-Headset, um einen Hauch VR-Luft schnuppern zu können: Im kooperativen Experiment "Cyborg Dating" für zwei Spieler genügt das Pappendeckel-Stereoskop Google Cardboard, das ein normales Smartphone mit etwas Bastelgeschick zum Lo-Fi-VR-Erlebnis macht. Ein Spieler bewegt sich so ausgestattet sowohl in der virtuellen als auch der realen Welt entlang von GPS-Hotspots, während der oder die MitspielerIn daneben sein oder ihr de facto blindes "Date" sicher durch Fußgängerzonen und Straßen begleitet. Am Ende des schräg-romantischen Spiels steht übrigens ein Kuss - spätestens dann sollte man die Brille abnehmen.

Foto: Hersteller

Tesla Arcade

Das Projekt des Studiengangs Interaktive Medien der Filmakademie Baden-Württemberg präsentiert mit "Tesla Arcade" einen Spielautomaten, wie man ihn sich vor 100 Jahren vorgestellt hätte: Vier Spielerinnen und Spieler kämpfen per Joystick vor einem "Display" aus 64 bunten Glühbirnen um den Sieg. Trotz - oder gerade wegen - der Einfachheit der Regeln lässt das antik aussehende Kuriosum verlässlich sportlichen Ehrgeiz und Wettkampfgeist aufkommen. 64 Pixel sind also anscheinend genug, um ein spannendes Mehrspielererlebnis zu gestalten.

Filmakademie Baden-Württemberg GmbH

else{Heart.Break()}

Was auf den ersten Blick wie ein x-beliebiges Adventure der PlayStation1-Ära aussieht, ist bei näherem Ansehen etwas ganz Besonderes: "else {heart.Break()}" des schwedischen Designers Erik Svedang soll ein Open-World-Adventure werden, in dem Spieler selbst per Programmierung Story, Charaktere und Spielewelt beeinflussen können. Hacking und Coding sollen als zentrale Gameplay-Elemente aber auch bislang unbedarften Spielerinnen und Spielern nähergebracht werden, und auch für Entspannung soll gesorgt sein: In der dynamisch simulierten, offenen Spielwelt gibt es auch Gelegenheit, sich einfach einmal in einem Park zu entspannen oder die lebendige Umwelt zu beobachten.

Foto: Hersteller

Keep Talking And Nobody Explodes

So dramatisch wie der Titel ist auch das Gameplay dieses Multiplayer-Virtual-Reality-Experiments: Bei der Bombenentschärfung in der virtuellen Welt sieht nur der oder die SpielerIn mit Headset die bedrohlich der Explosion entgegentickende Höllenmaschine, während der Freundeskreis rundum die im kryptischen Handbuch angeführten Entschärfungsanleitungen weitergeben muss, ohne die Bombe zu sehen - ein spaßig-hektisches Experiment in Kommunikation unter Zeitdruck.

Keep Talking Game

Bounden

Und noch ein Experiment mit ungewöhnlichem Gameplay, aber dafür weitverbreiteter Hardware: Das iOS-Spiel "Bounden" verleitet Spielerinnen und Spieler fast automatisch zum ausdrucksstarken Paartanz - mal mehr, mal weniger professionell anzusehen, aber immer ein bewegendes Spielerlebnis.

Auch wenn ein Teil der auf der Amaze präsentierten und hier vorgestellten Spiele wohl niemals den Weg in die Heime der Leserschaft finden werden: Sie sind, ebenso wie die Amaze selbst, der sichtbare Beweis für die Kreativität des Games-Undergrounds. Die Amaze Berlin bleibt auch in ihrer vierten, heuer wieder gewachsenen Inkarnation nicht nur europäisch, sondern international der spannendste Spielplatz für Spiele abseits des Mainstreams. (Rainer Sigl aus Berlin, 3.5.2015)

Game Oven