Krems – Hätte man in den 1980er-Jahren nur gewusst, was die damals angeleierte Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft tatsächlich bringen würde! Ja, dann. Jetzt jedenfalls ist das ganze Glück da. Was für eine "schöne neue Welt". Von der geben sich auch die japanische Gruppe Miss Revolutionary Idol Berserker und ihre Choreografin Tôco Nikaidô total begeistert.
Am letzten Wochenende des Donaufestivals ließ die 32-köpfige Formation die Uraufführung ihres neuen Stücks "Dawn of Revolution" auf ihr Publikum – die Erben von Aldous Huxley – los. Und auch der britische Performer Kim Noble, der dieses Jahr schon einmal im Wiener Brut-Theater aufgetreten ist, ließ in seinem Soloauftritt "You Are Not Alone" einiges los. Nikaidô und Noble bedienen sich diametral verschiedener künstlerischer Mittel. Aber an einem Punkt treffen sie sich: der Übersetzung von Huxleys Schöne-neue-Welt-Droge Soma in die virtuellen Narkosen von Youtube-Spaß und Social-Media-Porno.
Detonierende Sozialstudien
Beide Arbeiten kommen daher wie detonierende Sozialstudien. Nikaidô treibt die japanische Otaku-Fankultur auf die Spitze, und Noble öffnet die schwülen Abwasserkanäle der Internet-Sexkultur. Nikaidôs Output ist extrem schrill, der von Noble riecht streng. Beide Stücke beweisen sich als veritable Highlights der zeitgenössischen Performance.
Bei "Dawn of Revolution" wird das Publikum in Regenhäute gepackt. Eine freundliche Geste, denn während der etwa 45-minütigen Hypershow schütten die Tänzerinnen und Tänzer reichlich Wasser ins Auditorium. Während dieser "Schüttaktionen" wird in einem Videoprojektionsgewitter eine ohrenbetäubende Lawine aus geschredderten Popsongs losgetreten. Konfetti, Pompons und Spielzeug fliegen durch Geplappere, Gejubel und Gesang.
Der Maximalismus des Unterhaltungssystems
Auf vergleichsweise engstem Raum rauscht sozusagen das ganze Entertainment auf einmal durch die Köpfe und Körper des Auditoriums. Dagegen nimmt sich jeder Song Contest wie ein Meditationshochamt aus. Die Performer bleiben stets exzessiv nett zum Publikum. Die Brutalität von "Dawn of Revolution" liegt im Maximalismus des dargestellten Unterhaltungssystems, das alle von ihm Mitgerissenen in seine geschlossene Anstalt spült.
In deren Keller sitzt dann etwa Noble, der vorführt, wie er via Kamera, Mikrofon und Internet ganz normale Leute aufspürt und verfolgt. Wie er voll des Mitgefühls auf der Straße ein totes Täubchen aufliest – um es zu Hause zu häuten. Wie er im Netz eine falsche Identität annimmt, aus Hendlbrüsterln feuchte Schamlippen nachmacht und Bilder davon postet. Wie er sich in eine Frau verwandelt und als Transgender-Sarah seine Live-Dates konsterniert. Seines Landsmanns Huxley würdig, zeigt er, wie er angeblich seine Antidepressiva ins Londoner Trinkwassersystem schüttet.
Ob das Fakt oder Fiktion ist, bleibt dahingestellt. Auf jeden Fall präsentiert sich Noble als eis kalter Kommunikationstrickster, wunderbar poetisch, scheinbar selbstentblößend, mit sehr britischem Humor. Fazit: Wer den Social Media nach dieser Arbeit noch traut, dem ist nicht mehr zu helfen. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 4.5.2015)