Es ist genau wie beim ersten Rendezvous: In der Magengrube beginnt es sanft zu kribbeln, der Puls geht eine Spur schneller als sonst. Was wird einen erwarten? Einmal tief ausatmen, und die anfängliche Aufregung verschwindet.

Der Ort der Verabredung befindet sich exakt 26 Meter unter der Oberfläche des Atlantischen Ozeans vor Salt Island. Worauf man dort trifft? Auf das einst stolze Passagier- und Postschiff RMS Rhone. Ein Hurrikan schmetterte den 95 Meter langen Rumpf aus massivem Eisen im Jahr 1867 gegen die felsige Küste, Wasser drang ein und brachte die Dampfkessel zur Explosion. Rund um die Überreste des Schiffes wurde genau 100 Jahre später ein Nationalpark errichtet – die Rhone ist das bekannteste Wrack der Karibik und der beliebteste Tauchplatz der British Virgin Islands.

Das Wrack der RMS Rhone ist der beliebteste Tauchplatzu der British Virgin Islands.
Foto: http://de.wikipedia.org/wiki/RMS_Rhone#/media/File:BRMSA_068A.jpg

Mehr als 80 Inseln zählen zum britischen Überseegebiet der Jungferninseln, die 1493 von Christopher Columbus auf seiner zweiten Reise entdeckt wurden. Begeistert von ihrer Unberührtheit nannte er den Archipel nach einer christlichen Legende "Heilige Ursula und ihre 11.000 Jungfrauen". Eine Inselgruppe der Seligen blieb das Gebiet aber nur kurz: Zu Beginn des 17. Jahrhunderts errichteten Piraten und Freibeuter hier ein kleines Imperium des Schreckens.

Mittlerweile schätzen viele Taucher den Archipel, weil er sich wegen seiner klaren und warmen Gewässer auch bestens für Anfänger eignet. Zudem besitzen die Tauchbasen der BVI ein Alleinstellungsmerkmal in der Karibik, das sich "Rendezvous-Tauchen" nennt. Das bedeutet, man muss nicht zu einer Basis kommen, sondern wird von den Inseln des Archipels oder vom Schiff abgeholt und samt Equipment direkt zum Tauchspot gebracht.

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Das Blind Date beginnt dann unter der Wasseroberfläche. Etwa mit dem großen Zackenbarsch, der sich bewegungslos im Strömungsschatten der Sonnenkorallen ausruht. Oder mit dem Trompetenfisch, der versucht, sich zwischen Gorgonienzweigen zu verstecken. Auch den großen amerikanischen Stechrochen, der sich in feinen Sand eingegraben hat, kann man hier kennenlernen.

Wracktaucher zwängen sich dafür durch die große Ladeluke der Rhone, durch die schon Jacqueline Bisset im Siebzigerjahre-Filmklassiker "Die Tiefe" kam. An das diffuse Licht, das durch das Gerippe des Rumpfes fällt, muss man sich gewöhnen – auch an das mulmige Gefühl, ständig verfolgt zu werden.

Stock mit starren Augen

Aus dem Augenwinkel ist ein langgezogener Schatten wahrzunehmen, der zunächst wie ein Stock im Wasser schwebt und dann langsam seine Runden dreht. Große, starre Augen über einem mächtigen Kiefer mit schlimmem Überbiss fixieren die Taucher. "Darf ich vorstellen: Das ist Fred. Oder vielleicht auch Fang", sagt der Tauchguide. Fred und Fang sind zwei ausgewachsene Barrakudas, die das Wrack zu ihrem Zuhause gemacht haben. Einheimische schätzen diese hechtartigen Raubfische für gefährlicher als Haie ein.

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Der zweite Tauchgang, der zum Heck des Wracks führt, wird genutzt, um das "lucky porthole" aufzusuchen. Das Berühren der inzwischen blankpolierten Messingeinfassung des einzigen intakt gebliebenen Bullauges soll Glück bringen. Und tatsächlich: Unweit des mächtigen Bronzepropellers hält sich eine große Schule blau gestreifter Grunzerfische auf – ein herrlicher Anblick.

Dead Man's Chest

Das Vermächtnis der Piraten ist auf der Inselgruppe noch allgegenwärtig. Während der obligatorischen Oberflächenpause der Taucher schaukelt der Katamaran etwa vor Dead Chest Bay. Das ist jene spärlich bewachsene Steininsel, auf der der berüchtigte Pirat Bleakbeard 15 Männer mit nichts als einem Entermesser und einer Flasche Rum ausgesetzt haben soll. Durch das fiktive Seemannslied "Dead Man’s Chest" aus Robert Louis Stevenson Schatzinsel ist dieses karge Eiland weltberühmt geworden.

Auf Norman Island, der eigentlichen "Schatzinsel" in Stevensons Jugendbuchklassiker, gibt es die Treasure Point Caves zu erkunden. Dort ist die Realität von der Fiktion nicht allzu weit entfernt, denn Anfang des 20. Jahrhunderts fanden Einheimische in einer der drei Höhlen tatsächlich einen Piratenschatz. Unter der Wasseroberfläche schuf die Natur ein Juwel, das sogar beim Schnorcheln leicht zu entdecken ist: Die Höhlenwände sind von Sonnenkorallen bewachsen, in denen bunten Rifffische wohnen.

Bunte Canyons

Auch der Tauchplatz "Painted Walls" vor Dead Chest Island wird seinem Namen gerecht. Kräftige Wellen und der Gezeitenstrom haben während vieler Jahrhunderte massive Rinnen aus dem Vulkangestein gespült, der von farbenprächtigen Schwämmen und Korallen überwuchert ist. In den tieferen Canyons dieses Reviers gehen oft karibische Riffhaie auf die Jagd. Aufgrund der exponierten Lage ist das Tauchen hier nur bei ruhiger See zu empfehlen, am besten von Juli bis September.

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Als Alternative für weniger geübte Taucher eignet sich das geschützter gelegene Angelfish Reef. Große Wälder aus Seefächern wiegen sich dort im Takt des Ozeans und bieten Unterschlupf für vier verschiedene Arten von Kaiserfischen, für Schwarzpunkt-Kofferfische, Königin-Drückerfische, Weißpunkt-Feilenfische, Papageienfische, Falterfische und Stachelmakrelen.

Bezahlt wird mit Dollars

Die letzte Verabredung des Tages verlegen selbst Taucher auf den Jungferninseln lieber an Land – in eine der vielen stimmungsvollen Strandbars. Die Soggy Dollar Bar auf der Insel Jost van Dyke rechtfertigt es sogar, sich trotzdem noch einmal nasszumachen. In der White Bay gibt es keinen Anlegesteg, also muss man zu dieser Bar schwimmen. Dabei nass gewordene Dollar-Scheine – die Inseln sind zwar britisch, bezahlt wird aber mit der US-Währung – werden von jeher vom Barkeeper zum Trocknen aufgehängt. Sind sie wieder trocken, bekommt man dafür etwa das Nationalgetränk der British Virgin Islands: Painkiller.

Dieser Cocktail besteht aus dem für die Inseln typischen Pusser’s Rum, Kokoscreme, Ananas, Orangensaft und geriebene Muskatnuss. In den 1970er-Jahren soll er in der Soggy Dollar Bar erfunden worden sein. Und wenn man gleich zwei Gläser davon vor sich sieht, ist das keine Nebenwirkung dieses köstlichen Schmerzmittels, sondern einfach nur gutes Timing: Die Happy Hour hat begonnen. (Verena Diethelm, Rondo, DER STANDARD, 8.5.2015)