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Die deutsche Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler.

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Karin und Klaus Grossmann forschen auf dem Gebiet der Beobachtung von Kleinkindern und Säuglingen weiter, auf dem Charlotte Bühler Pionierin war.

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STANDARD: Was war Charlotte Bühlers wichtigstes Verdienst?

Klaus Grossmann: Charlotte Bühler hat eine Entwicklungspsychologie etabliert, die weit über europäische Grenzen hinaus bekannt wurde. Sie hat als Erste mit Säuglingen und Kleinkindern gearbeitet, was damals für die Psychologen kein zugänglicher Bereich war. Ihre Mann, Karl Bühler, hatte in seiner Forschungsarbeit eine starke biologische Ausrichtung, die Charlotte Bühler beeinflusste. Konrad Lorenz machte als junger Student bei Karl Bühler die Prüfung in Psychologie. Sie sehen, da gibt es schon einige Verknüpfungen, die später dazu führten, dass die Verhaltensforschung auch auf Menschen übertragen wurde. Und mit diesem Ansatz war Charlotte Bühler originär.

STANDARD: Welche Rolle spielt ihre Arbeit heute?

Klaus Grossmann: Sie ist eine wichtige Referenz. Dass die Entwicklungspsychologie ein wichtiger Bereich der Psychologie ist, das ist auch ihr Verdienst. In unserem Beitrag für das Charlotte-Bühler-Symposium in Wien haben wir uns aber gefragt, warum Bühler nicht über das individuelle Kleinkind hinausgegangen ist. In Amerika hat sie die humanistische Psychologie kreiert und sie hat auch Bücher geschrieben, in denen sie die Beziehungen immer in den Vordergrund gestellt hat – aber in ihrer Forschung kam das nicht vor.

Karin Grossmann: Das lag auch an der damaligen Situation. Bühler untersuchte meistens sogenannte "Sozialwaisen", also Kinder, die abgegeben wurden. Diese Kinder hatten in der "Kinderübernahmestelle" keine Person, die ihre spezifischen Bedürfnisse hätte lesen können. Deshalb sind Bühlers Forschungsergebnisse über die sozialen Fertigkeiten des Kleinkindes auch nicht auf Familien-Kinder übertragbar.

STANDARD: In Ihrer eigenen Forschung über die frühkindliche Bindung spielen Beziehungen und Menschen, die die Bedürfnisse der Kinder von Beginn an lesen und versuchen, sie zu erfüllen, eine wesentliche Rolle. Sie unterscheiden in der frühkindlichen Entwicklung zwischen "sicherer" und "unsicherer Bindung". Was kann man sich darunter vorstellen?

Klaus Grossmann: Wenn neue Situationen auf das Kind zukommen oder Komplikationen in Beziehungen zu besonderen Menschen, dann kann Angst oder Unsicherheit entstehen. Kinder mit "sicheren Bindungen" können diese Situation eher bewältigen. Sie gehen von der Erwartung aus, dass andere Menschen ihnen gut gesonnen sind und sie deswegen keine Angst zu haben brauchen. Kinder mit einer "unsicheren Bindung" haben das nicht.

STANDARD: Auf wie viele Monate beschränkt sich die heikle Phase für die Entwicklung von Bindung?

Klaus Grossmann: Babys bauen, bevor sie sprechen können, Bindung durch Gefühle auf. Die Mütter und Väter sprechen laufend mit ihnen und die Kinder verstehen das zwar sprachlich nicht, aber sie verstehen es durch die Qualität der Zuwendung. Ist sie gut, so etabliert sich zum Beispiel ein Gefühl für Folgendes: Wenn man sich mit einem leidvollen Gesicht der Bindungsperson offenbart, dann wird diese Person ganz lieb sein. Auf diese Art und Weise entsteht das Gefühl, dass man sich an andere wenden kann, ohne dass man zurückgewiesen oder ignoriert wird. Die meisten Väter und Mütter probieren auch Verschiedenes aus, um herauszufinden, was das Kind in bestimmten Situationen braucht. Dadurch entsteht eine komplexe Art des wechselseitigen Verstehens.

STANDARD: Gibt es einen Unterschied zwischen dem geläufigen Begriff "Bonding" und Bindung, wie Sie sie untersuchen?

Karin Grossmann: Ja, da gibt es einen großen Unterschied: Mit "Bonding" ist die Beziehung der Mutter zum Kind gemeint, wenn die Eltern beginnen, sich mit ihrem Kind wohlzufühlen und es als ihren "Schatz" annehmen. Wir forschen aber zur Bindung aus der Sicht des Kindes, das sich an seine Eltern-Personen bindet. Kann das Kind damit rechnen, dass seine Bezugspersonen Sicherheit bieten, wenn es Angst bekommt oder nicht? Wenn ein Kind etwa eine Bedrohung oder einen Mangel erlebt, beobachten wir, was das Kind macht. Streckt es etwa die Hand aus, und wie reagieren die Eltern darauf? Die zentrale Frage ist, was signalisiert das Kind auch ohne Worte und was ist eine angemessene Antwort. Deshalb ist die Verhaltensforschung hier so wichtig. Einmal will es nicht gestört werden beim Spielen, ein anderes Mal will es Nähe, weil es Angst hat. Wenn man von der Perspektive des Kindes ausgeht, kann man sehen, welche Eltern übertreiben und welche vieles nicht bemerken.

STANDARD: Sie haben eine vielbeachtete Langzeitstudie durchgeführt, in der Sie ab Mitte der 1970er-Jahre Kleinkinder bis ins Erwachsenenalter beobachtet haben, um Effekte der ersten Bindungserfahrungen zu erforschen. Die Studie lief 20 Jahre lang. Würden Sie die Studie heute starten, wären die Ergebnisse dieselben?

Klaus Grossmann: Auf der Bindungsebene, auf der es um die frühkindliche Kommunikation geht, ja. Aber die Art, wie sich heute Eltern verhalten, hat sich verändert. Vor allem bei den Vätern hat sich viel getan. Der gesellschaftliche Kontext spielt also eine große Rolle. Es gibt Zeiten, in denen es weitaus weniger sichere Bindungen gibt, weil es den Eltern schlechtgeht, sie unter Stress stehen oder keine Zukunftsperspektive haben. Das beeinträchtigt auch die Qualität der Beziehung.

STANDARD: Wie geht man in der Verhaltensforschung über den Menschen damit um, dass man Situationen beobachtet, die ein gesellschaftlicher Kontext geprägt hat?

Klaus Grossmann: Sobald wir herausgefunden hatten, dass es spezifische Antworten auf die Bedürfnisse der Kinder gibt, hatten wir ja einen gleichbleibenden Parameter. Wir haben uns darauf konzentriert und langfristig gesehen, dass es im Alter von sechs, zehn oder zwölf Jahren gravierende Unterschiede zwischen diesen Parametern gibt – unabhängig von der sozialen Situation. So konnten wir direkte Vergleiche ziehen.

STANDARD: Wie viele Bezugspersonen können Kleinkinder haben?

Klaus Grossmann: Wir haben beobachtet, dass es am Ende des ersten Jahres zwischen zwei bis vier Bezugspersonen sind. Großeltern, Vater und Mutter, und oft auch ein älterer Bruder oder eine ältere Schwester. Das sind dann auch schon individuelle Beziehungen mit bestimmten Vorlieben, wen die Kinder für welche Situation bevorzugen.

Karin Grossmann: Zum Spielen waren es eher Geschwister. Hatten die Kleinkinder leichten Stress, waren es auch die Großeltern. Je größer der Stress, etwa wenn das Kind krank war, desto eher war es die Mutter. Das Kind fokussiert sich in so einer Situation auf die Person, die am häufigsten für das Kind da ist. Es verlangt dann nach der Person, bei der es am sichersten sein kann, dass diese Person seinen Stress beenden kann.

STANDARD: Das zeigt also, dass auch Väter diese zentrale Rolle spielen können?

Karin Grossmann: Ja, wenn das Kind müde wird, spürt es ja, wer es liebevoll zu Bett bringt. Wer es beruhigen kann, wer es wärmt, wenn ihm kalt ist, wer es füttert. Das Kind lernt, wer meistens da ist. Wenn der Vater nicht da ist und deshalb so und so viele Male ein Bedürfnis nicht stillt, dann kann es passieren, dass ein Kind den Vater eher zur Abwechslung, zum Spielen und Herumtoben will. Wenn es dem Kind aber schlechtgeht, weiß es, dass sich die Mama schon hundert Mal darum gekümmert hat. Es ist also ein Erfahrungswissen des Kindes.

Klaus Grossmann: In unseren Daten haben wir gesehen, dass es die Arbeitsteilung gibt, dass Väter bei Unternehmungen gut sind, bekräftigend und stärkend auf ihr Kind einwirken. Und Mütter tröstend.

Karin Grossmann: Allerdings ist das in traditionellen Familien so, in denen Väter acht Stunden arbeiten und nur am Wochenende Zeit haben. Aber wenn wir heute zu akademischen sozialen Berufen schauen, sehen wir Väter, die sich viel mehr einbringen. (Beate Hausbichler, 6.5.2015)