Marshal M. (Mitte) lebt mit seinen Kindern auf 24 Quadratmetern. Den vieren - von links nach rechts: Dunja, Zorah, Samira und Danyal - geht die Mutter sehr ab.

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Wien – Dunja (5) weint. Ihr achtjähriger Bruder Danyal (Namen der Kinder wurden geändert, Anm.) hat den Gameboy hinauf aufs Stockbett entführt. Dort liegt der Bub, von der Steppdecke halb verborgen, und hackt verschlossenen Gesichts auf das Spielgerät ein.

An der Fensterseite des nur 24 Quadratmeter großen Zimmers in einem Flüchtlingsheim der evangelischen Diakonie, in dem vier Kinder und ein Erwachsener schlafen, essen, wohnen, hat sich unterdessen Samira (3) vor den Spiegel platziert. Selbstvergessen und laut singend dreht sie sich hin und her. Zohra (7) kümmert sich um all den Trubel nicht: Mit traurigen Augen sitzt sie auf dem Sofa, eng an ihren Vater geschmiegt.

Überlasteter Vater

Dieser ist blass und ernst, wirkt übermüdet. Das ist kein Wunder, denn Marshal M. (34) lebt seit Monaten unter starkem Druck. In Afghanistan war er einst Landwirt, nun ist er seit fünf Monaten mit seinen Kindern in Österreich auf sich allein gestellt, bringt sie in Kindergärten und Schulen, holt sie wieder ab. Er kocht und wäscht für sie und hält das Zimmer sauber. In der Nacht versucht er, die Kinder zu trösten. Vor allem den zwei Kleinsten gehe die Mutter bitter ab, schildert eine Sozialarbeiterin der Diakonie. Die täglich stundenlangen Unterhaltungen via Skype seien kein Ersatz.

Marshal M. kam ursprünglich allein als Flüchtling nach Österreich. 2011 wurde dem aus Afghanistan kommenden Mann beschieden, dass eine Rückkehr in die Heimat für ihn mit großen Gefahren verbunden wäre: subsidiärer Schutz. Dieser wurde 2013 auch auf die Kinder ausgeweitet – so wie es die Regeln der Familienzusammenführung besagen. Also durften sie mit dem Vater im November 2014 nach Österreich einreisen, nachdem dieser seine Familie zu wiederholtem Mal in Pakistan getroffen hatte.

Ehefrau sitzt in Afghanistan fest

Anders die Mutter, Marshal M.s Ehefrau: Amrisa M. (29) sitzt derzeit mit ihrem Letztgeborenen, dem vier Monate alten Deniz, in Afghanistan bei ihren Eltern fest – und wird, wie ihr Mann schildert, immer depressiver. Die österreichische Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad hat ihr bereits zweimal ein Einreisevisum verwehrt.

Die Begründung dafür ist abenteuerlich, doch sie entspricht dem Wortlaut des Gesetzes: Amrisa M. komme nicht in den Genuss der Familienzusammenführung, weil sie keine Familienangehörige des Mannes sei, den sie 2002 nach muslimischem Ritus in Afghanistan geheiratet hat. Denn eine muslimische Heirat gelte offiziell nicht als Ehe – und laut Paragraf 2, Absatz 22 des Asylgesetzes müsse "sie bereits im Herkunftsland bestanden haben", um als solche anerkannt zu werden.

Heirat im falschen Land bestätigt

Dies wissend, ließen sich Marshal und Amrisa M. ihre Ehe im afghanischen Generalkonsulat in Peschawar offiziell bestätigen. Peschawar liegt nicht in Afghanistan, sondern in Pakistan: für die Asylbehörden Grund genug, um die Herkunftsland-Klausel gegen die Antragsteller auszulegen.

Als das den M.s zum zweiten Mal beschieden wurde, befanden sie sich in einer verzweifelten Lage: "Wenige Tage davor war unser Ältester, Walid, getötet worden. Er war auf dem Markt, als sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte", schildert Marshal M.. Aus "purer Angst" habe er die vier anderen Kinder mit in das sichere Österreich genommen. Dass der Mutter das Nachkommen weiter verwehrt würde, hätte er nicht für möglich gehalten: "Die Kinder brauchen sie."

Ministerium: "Neue Lesart des Gesetzes"

Im Innenministerium ist zu erfahren, dass seit Juni 2014 eine neue Lesart des Gesetzes gelte: Im Fall eines neuen Visumsantrags habe Amrisa M. gute Chancen. Beim Roten Kreuz, wo man sich um den Fall M. kümmert, wundert das die zuständige Mitarbeiterin: "Davon hören wir zum ersten Mal." (Irene Brickner, DER STANDARD, 5.5.2015)