Zuerst fällt auf, was es nicht ist. Nämlich laut und hektisch. Das Wort idyllisch möchte man nicht verwenden, doch liegt die Sonderkrankenanstalt Wilhelmshöhe mitten im Grünen, in aller Ruhe, auf einem Hügel hinter einem kurzen Waldstück bei Tullnerbach in Niederösterreich. Der mehr als 100 Jahre alte Bau sieht auf den ersten Blick aus wie ein Ausflugsziel, ignoriert man die Gitter vor den Fenstern und den hohen Zaun mit Stacheldraht. Anfühlen tut es sich freilich anders, wenn das schwere Eingangstor hinter einem ins Schloss fällt und zugesperrt wird. Die Freude über grüne Wiesen, frische Luft und Sonne wird verschluckt von Beklemmung. Der Weg zur Freiheit – verschlossen. Den Schlüssel haben nur die Beamten.

Die Wilhelmshöhe bei Tullnerbach in Niederösterreich.
Foto: Johanna Schwarz

42 Häftlinge sitzen hier ein, 16 davon über 60 Jahre alt. "Früher gehörte das Gebäude der Wiener Kaufmannschaft", erzählt Primar Friedrich Knechtel, Lungenfacharzt in dieser Außenstelle der Justizanstalt Wien-Josefstadt. "In den 50er-Jahren hat die Justiz die Wilhelmshöhe erworben und in Eigenregie umgebaut." Die Insassen, die zwischen 19 und 86 Jahre alt sind, haben Krankheiten, die von COPD (chronische Lungenerkankung, vor allem durch Rauchen verursacht) über Hepatitis C bis zu klassischen Alterserkrankungen wie Diabetes, Herzschwäche und Blutdruckschwankungen reichen.

Ein Isolationszimmer. Hier wird zu Beginn abgeklärt, ob eine Tuberkulose vorliegt.
Foto: Johanna Schwarz

Tuberkulose – ein Gefängnisproblem

Bei jedem Menschen, der in Österreich in Untersuchungshaft kommt, wird ein Lungenröntgen gemacht. Ist dieses "auffällig", kommt er zur Abklärung auf die Wilhelmshöhe. "Wir stellen fest, ob die Person behandelt werden muss. Ist sie wieder gesund, kommt sie zurück in ihr 'Mutterhaus'", sagt Knechtel. Tuberkulose, das klingt nach Jahrhundertwende und Zauberberg. Tatsächlich ist es aber auch heute kein kleines Problem, wie der Primar erklärt: "In der österreichischen Bevölkerung haben wir einen sehr niedrigen Tuberkulose-Schnitt mit sieben pro 100.000 Einwohnern. Doch legt man das auf die Justiz um, sind es 170 Fälle auf die gleiche Einwohnerzahl."

Tuberkulose ist ein weltweites Problem in Gefängnissen, wie die WHO aufzeigt: Die Zahl der Tuberkuloseerkrankungen kann im Gefängnis bis zu hundertmal höher sein als in der Gesamtbevölkerung, der Anteil der Gefängnis-Tuberkulose kann dabei bis zu 25 Prozent der gesamten Tuberkuloseerkrankungen eines Landes ausmachen.

Schlechte Belüftung und Ernährung, Überfüllung in vielen Gefängnissen, der eingeschränkte Zugang zu Medikamenten, verspätete Diagnosen und häufige Verlegungen sind die Ursachen. Dabei wären die Erkrankung und ihre Übertragung laut WHO leicht vermeidbar. Richtig behandelt, gefährde sie weder andere Insassen noch Besucher und Gefängnispersonal.

Keine Privatsphäre: der Besucherraum. Auf je einer Seite sitzen Insasse und Besuch.
Foto: Johanna Schwarz

Um Tuberkulose und andere Lungenkrankheiten allgemein behandeln zu können, braucht es neben starken Medikamenten über lange Zeit auch Sonne und vor allem: Ruhe. Die findet man hier auf der Wilhelmshöhe.

Für die Häftlinge gibt es eine Stunde Ausgang am Tag, das bedeutet Rundendrehen im Gefängnishof, einem eingezäunten Grünbereich mit Schachbrett und Tischtennistisch. Ein großer Gegensatz zu den engen, überfüllten und asphaltierten Spazierhöfen anderer österreichischer Justizanstalten. Nur fünf Insassen nutzen heute die Zeit an der frischen Luft zwischen 10.30 und 11.30 Uhr – je länger die Leute hier seien, desto seltener gingen sie hinaus, sagt ein Justizbeamter. Im Strafvollzug werde man träge.

Besuch empfangen kann man nur am Wochenende. Dann unterhält man sich an einem langen Tisch einander gegenübersitzend, Ellbogen an Ellbogen mit den anderen Insassen. "Privatere" Gespräche muss man anmelden. Wer das macht, bekommt die Möglichkeit zu einem "Tischbesuch" – und kann an einem Tisch an vier Seiten sitzen. Zwei Häftlinge haben dazu jedes Mal die Möglichkeit. Wer schon im gelockerten Vollzug ist, hat Vorrang.

Die Medikamente werden viermal am Tag ausgegeben und unter Aufsicht eingenommen.
Foto: Johanna Schwarz

Der älteste Insasse auf der Wilhelmshöhe ist 86 Jahre alt. Helmut Sigitz* hat gerade erst zwölf Jahre Haft für ein schweres Gewaltdelikt mit Schusswaffengebrauch angetreten. Er sieht sich selbst als unschuldig und hört schwer. Auf seinem Rollator sitzend ruft er einige Male: "Verstehen Sie mich?" In der Früh sei ihm sehr schlecht gewesen, sagt er. Er spricht Knechtel mit "Herr Primar" an, das "a" zieht er dabei lang. Vor ihm auf dem Tisch das Frühstück: Kuchen, Kaffee, Honig. Im Korb des Rollators hat er Cremen und eine Zeitung immer bei sich. Im Gespräch schlägt Sigitz vor, doch einen Fußballverein namens "Häf'n" zu gründen. Der Justizbeamte, mit dem er spricht, winkt ab, den gebe es bereits mehrfach. "Des beruhigt mi, für des bin i. Weil die Leut' auf andere Gedanken kommen", sagt Sigitz. Auch das wird geduldig bestätigt.

Vernachlässigte kranke Insassen, Verwesungsgeruch, der von den Füßen ausgeht. Angesprochen auf den Fall eines verwahrlosten Häftlings in der Justizanstalt Stein im vergangenen Jahr und die Zustände in österreichischen Gefängnissen meint Knechtel: "Das war ja vom Insassen so gewollt. Aber man muss auch sagen, dass da nicht darauf geschaut wurde." Man könne sich hier höchstens wenige Tage lang weigern, zum Arzt zu gehen. Außerdem mache man seit Jahren eine Fußkontrolle. Für ältere Insassen, die zum Beispiel Diabetes haben oder unter Schwindel leiden, sei außerdem eine Fußpflegerin organisiert.

Das Frühstück von Herrn Sigitz*.
Foto: Johanna Schwarz

Stetig steigend

Mit Stichtag 7. Mai waren in Österreich 355 Häftlinge über 60 Jahre alt, 14 davon über 80. 2014 gab es noch einen 93-jährigen Häftling, 2015 ist der älteste 91 Jahre alt. In Suben, Oberösterreich, gibt es bereits eine Strafanstalt für ältere Insassen, doch der Schwerpunkt liegt dort auf Beschäftigung durch Arbeiten; wer nicht mehr fit ist, kann dort nicht bleiben. Wer auf der Wilhelmshöhe "landet", ist "zu gut beisammen für einen Akutaufenthalt in einem Spital, aber zu schlecht für den normalen Vollzug", wie es Knechtel formuliert. Welche Delikte einen in so hohem Alter einsitzen lassen? "Betrug ist ein großes Thema. Ansonsten stehen Gewalt- und Sexualdelikte im Vordergrund. Viele haben noch lange Haftstrafen vor sich." Die Natur der Delikte macht es auch schwierig, die Insassen nach der Haft wieder in ihre Familien einzugliedern. Häufig sucht man eher nach einer Startwohnung oder einem Platz in einem Seniorenheim.

Der Anteil an Insassen über 60 Jahren steigt stetig an.

"Obwohl sie alt und gebrechlich sind, werden viele nicht entlassen, weil das Delikt als so schwerwiegend eingestuft ist", sagt der Primar. Wie der STANDARD berichtete, fallen vor allem im Vergleich mit der Schweiz und Deutschland die vermehrten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen auf, auch die Zahl der Erstverurteilungen ist gestiegen. Lange Haftstrafen sind also Usus, in Österreich weicht man vergleichsweise selten auf Maßnahmen wie Geldstrafen oder "ambulante Sanktionen" wie etwa gemeinnützige Arbeit aus.

Das Wandregal im Zimmer von Herrn Sigitz*.
Foto: Johanna Schwarz

Versorgt, aber nicht gepflegt

Die älteren Insassen auf der Wilhelmshöhe zeigen Krankheitsbilder, die typisch für ihr Alter sind – Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme, aus denen Bewegungs- und Atemprobleme resultieren. Im ganzen Haus gibt es ein barrierefreies Bad mit Dusche. Und im Frauentrakt ein Zimmer mit einem behindertengerechten Bett.

Im nächsten Zimmer empfängt mit lautem "Grüß Gott!" Gerhard Koller*, beide Arme zur Gänze tätowiert, im Hintergrund läuft Musik von Taylor Swift. Er darf nähen, die Maschine dazu steht bereit. "Da muss man froh sein, dass es so etwas wie hier noch gibt. Ich kenn's nämlich wirklich anders." Koller wurde aus der Justizanstalt Stein verlegt, er wird wegen einer Lungenerkrankung behandelt, die aber so schwerwiegend ist, dass er hier bleiben wird. "Die Insassen können hier runterkommen", erklärt der Justizbeamte, "es ist grün und ruhig. Haftbedingungen machen Dinge wie Aggressivität oft schlimmer."

Nicht so auf der Wilhelmshöhe. Häftlinge, die im gelockerten Vollzug einsitzen, können zum Beispiel Gemüse anpflanzen. Einer hat sich eine Bastelwerkstatt eingerichtet. Er baut Kreuze und Kästchen mit vielen kleinen Fächern und Laden und schmückt diese auf extravagante Weise, hat sich so bereits über 40 Jahre immer wieder in Haft "gerettet". Der Justizbeamte erklärt die Gedanken dahinter: "Er sagt immer: Jeder Mensch hat ein Geheimnis. Deshalb diese kleinen Fächer ... das passt irgendwie zum Klientel."

Beschäftigungstherapie: mit Plüsch und Gold verziertes Kreuz.
Foto: Johanna Schwarz

Resozialisierung sollte Schwerpunkt sein

"Die Wilhelmshöhe ist wohl keine für den österreichischen Strafvollzug repräsentative Haftanstalt", sagt Grünen-Justizsprecher Albert Steinhauser. Die geringe Größe, die Lage und die Räumlichkeiten böten mehr Möglichkeiten bei der Betreuung. Die österreichischen Haftanstalten seien chronisch überbelegt und hätten zu knappe Ressourcen. Das führe zu langen Einschlusszeiten, Problemen bei der Beschäftigung und geringen Therapiemöglichkeiten. Dabei sollte der Schwerpunkt eigentlich die Resozialisierung sein, die aber oft erschwert ist. "Bei älteren Insassen haben wir zusätzlich das Problem, dass sie entweder so lange in Haft waren, dass sie sich in der Außenwelt danach schwer zurechtfinden, oder Betreuungsheime schwierig zu finden sind, da diese Probleme befürchten."

Wie man mit pflegebedürftigen Häftlingen umgehen sollte? "Die schwerpunktmäßige Entwicklung sollte sein, diejenigen, die Pflege bedürfen, nicht in den Strafvollzug zu schicken. Man sollte nicht versuchen, Gefängnisse zu Pflegeheimen umzubauen", sagt Steinhauser. Viel wichtiger sei es, die Bevölkerung zu sensibilisieren, aufzuklären und Betreuungsplätze möglich zu machen. Ausnahmen seien Häftlinge, von denen Gefahr ausgehe. Aber gerade ältere Insassen haben oft eine geringe Rückfallquote, sagt der Justizsprecher. "Bei älteren Insassen gibt es so etwas wie Kriminalitätsmüdigkeit."

In der Wäscherei, die sich in einem eigenen Gebäude befindet, arbeiten die "Systemerhalter".
Foto: Johanna Schwarz

Die genannten Aktivitäten auf der Wilhelmshöhe sind weit entfernt von denen eines Altersheims. "Da hat man in der Öffentlichkeit oft ein falsches Bild", sagt Primar Knechtel. "Die Insassen haben teilweise noch Jahre ohne Aussicht auf Entlassung vor sich, können sich nicht frei bewegen. Wir würden sie gerne passender und personenbezogener betreuen, ganz nach dem Äquivalenzprinzip, doch das ist schwierig, wenn das Geld fehlt." Was man dringend bräuchte, wäre eine Ergotherapie, ganz zu schweigen von anderen alters- und krankheitsentsprechenden Aktivitäten. "Wir haben hier niemanden, der speziell ausgebildet ist. Ja, man ist hier ärztlich besser betreut als in einem normalen Gefängnis, die Ärzte sind 24 Stunden in Bereitschaft, und es gibt tägliche Ambulanzuntersuchungen." Es mangle aber an altersgerechter und psychologischer Betreuung. "Wer mobil ist, sollte Treppen steigen und bewegt werden", sagt Knechtel. "Einschlusszeit ist aber 14.30 Uhr."

Im Frauentrakt herrscht noch weniger Hektik als im restlichen Gebäude. Es wird gerade zu Mittag gegessen, die offenen Fenster lassen frische Luft herein. In diesem abgetrennten Bereich herrscht das "Privileg der Damen" – es gibt einen Aufenthaltsraum, und: Die Zellentüren bleiben bis 22 Uhr offen. An der Wand hängen Bilder von Kindern, "meine Liebsten" wurde schnörkelig mit Buntstift darübergemalt. Blumen stehen auf dem Fensterbrett in einem Glas, die Betten sind gemacht. Der Ergometer im Eck sei hier sogar regelmäßig in Verwendung, erzählt Knechtel.

Ein Zimmer mit Aussicht im Frauentrakt.
Foto: Johanna Schwarz
An der Wand verewigt: Ein Häftling hat die Bilder in der Kapelle gemalt.
Foto: Johanna Schwarz

Die einzigen gesunden Insassen auf der Wilhelmshöhe sind die "Systemerhalter". Sie pflegen den Garten, kochen, waschen und putzen. Eine Win-win-Situation, sagt der Primar: "Wir müssen weniger aufpassen, und sie können sich freier bewegen."

In Singen im deutschen Baden-Württemberg steht die entsprechende Vorzeigehaftanstalt, in der neben der oft geforderten Ergotherapie auch Kochkurse, Altersgymnastik und Gedächtnistraining zum Alltag gehören. Außerdem sind die Besuchszeiten ausgedehnt. "So stelle ich mir das vor, so gehört das gemacht", so Knechtel. "Man muss diese Leute menschenwürdig betreuen. Studien zeigen, dass der körperliche und geistige Verfall in Haftanstalten viel schneller voranschreitet als 'draußen'. Menschlicher Umgang und Werte dürfen nicht vor Gefängnistoren haltmachen."

Der Umgang mit den Häftlingen scheint auf Vertrauen aufzubauen. Telefone gibt es hier auf jedem Stockwerk, sie dürfen jederzeit benutzt werden. Im zweiten Stock befindet es sich gleich neben dem Eingang zur Kapelle. Wöchentlich kann man die Messe besuchen und sitzt dann mit Aussicht auf "draußen" neben Bildern, auf denen sich ein Häftling "austoben" konnte. Er hat hier sein Gesicht verewigt – auf allen Gemälden ist er Jesus.

* Namen von der Redaktion geändert