Ein New Yorker Stammtisch bot deutschsprachigen Emigranten die Möglichkeit, sich in ihrer Muttersprache auszutauschen

Jeden Mittwoch fand bis vor kurzem in New York ein ganz besonderer Stammtisch statt. Die im April verstorbene Gaby Glueckselig lud Emigranten in ihre Wohnung ein. In ihrem Wohnzimmer an Manhattans Upper East Side kamen die Ausgewanderten zusammen, um zumindest einmal in der Woche Deutsch zu sprechen und ihre Geschichten auszutauschen. Es wurde über den Alltag gesprochen, über Politik oder Kultur; aber auch über die Fluchtgeschichten. Viele der Gäste waren jüdisch und im Zweiten Weltkrieg vor den Nationalsozialismus geflohen.

Seit über 70 Jahren war der Stammtisch Tradition. Gegründet wurde er in den 1940er-Jahren von dem bayrischen Schriftsteller Oskar Maria Graf und dem in Wien geborenen Künstler George Harry Asher. Zu Beginn fand die Runde in einem österreichischen Kaffeehaus, dann in einem deutschen Restaurant in New York statt. Die letzten 27 Jahre traf man sich in Glueckseligs Wohnung. "Als ich zu Besuch war, wurde mir erzählt, dass der Stammtisch seit den 1940er-Jahren nicht ein einziges Mal ausgefallen ist", sagt der Journalist und Dokumentarfilmer Emil Rennert. Gemeinsam mit der Fotografin Shani Bar On stellte Rennert ein Fotobuch über den Stammtisch zusammen.

"Fast schon ein Ritual – Gaby Glueckseligs Stammtisch der Emigranten in New York" erzählt auf 112 Seiten die Geschichten der Gäste Glueckseligs und zeigt Fotos einer Runde, die ihre zweite Heimat gefunden hat. "Gaby war eine wunderbare Gastgeberin", sagt Rennert. "Es ist leider unklar, was jetzt mit dem Stammtisch passieren wird." (Oona Kroisleitner, 8.5.2015)

Veranstaltungsinfo

"Fast schon ein Ritual – Gaby Glückseligs Stammtisch der Emigranten in New York"

Freitag, 8. Mai, 19 Uhr
Lhotzkys Literaturbuffet Rotensterngasse 2 / Ecke Taborstraße 28, 1020 Wien
Buchpräsentation

Montag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Tiempo Nuevo, Taborstraße 17a, 1020 Wien
Präsentation & Lesung

Gaby Glueckselig in ihrem Wohnzimmer an einem Mittwochabend, bevor ihre Gäste eintreffen. Glueckselig wurde am 27. April 1914 in Wiesbaden geboren, später arbeitete sie in Pforzheim als Goldschmiedin. Im September 1938 emigrierte sie nach New York. Am 22. April 2015 starb Glueckselig, fünf Tage vor ihrem 101. Geburtstag.

Fotos: Shani Bar On

Die Stammtischrunde in Gaby Glueckseligs Wohnung. Hier gibt es nur drei Regeln: Personen, die zum ersten Mal dabei sind, müssen sich kurz vostellen, alle sind per Du miteinander, und es wird Deutsch gesprochen.

Foto: Shani Bar On

Trudy Jeremias in ihrer Wohnung. 1926 geboren, kam die Wienerin 1939 nach ihrer Flucht in den USA an.

Wenn ein neuer Gast zum Stammtisch kommt, muss dieser sich vorstellen. Dafür hat die Gastgeberin ein kleines Glöckchen, mit dem sie um Aufmerksamkeit läutet.

Fotos: Shani Bar On

Miriam Merzbacher besucht das ehemalige KZ Mauthausen, in dem ihr Bruder Peter ermordet wurde. Merzbacher wurde 1927 in Berlin geboren. Im Jahr 1937 floh ihre Familie nach Großbritannien, dann weiter in die Niederlande.

Foto: Shani Bar On

Kurt Sonnenfeld ist fast jede Woche beim Stammtisch. Sonnenfeld floh mit seiner Familie 1938 über die Schweiz nach Paris. Später flohen sie weiter über Spanien und Portugal in die USA. Für seine Tätigkeit im New Yorker Jugendamt wurde er mit dem Lifetime Service Award ausgezeichnet.

Foto: Shani Bar On

Seit 27 Jahren findet der Stammtisch bei Gaby Glueckselig zu Hause statt. Kommen dürfen alle, die Lust haben.

Fotos: Shani Bar On

Marion House auf ihrer Terrasse in New York. House wurde 1923 in Berlin geboren. Nach dem Novemberpogrom 1938 schickten ihre Eltern sie mit einem Kindertransport nach England. Nach dem Krieg wanderte sie in die USA aus.

Fotos: Shani Bar On

Marion House verabschiedet sich von Gaby Glueckselig mit einem Kuss auf die Stirn.

Fotos: Shani Bar On

"Gaby Glueckseligs Stammtisch der Emigranten in New York": Hardcover, 112 Seiten, Farbe, Deutsch/Englisch, Edition Exil 2015, 18,50 Euro