"Es ist wichtig, um die Machtverhältnisse in Arbeit und Wirtschaft zu kämpfen", sagt Chantal Mouffe. Doch genau das hätten die sozialdemokratischen Parteien Europas aufgegeben. Sie begnügen sich mit dem "humanen Management der neoliberalen Globalisierung". Mouffe sieht daher den Linkspopulismus derzeit als einzigen Weg.

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Sie warnen vor dem Verschwimmen zwischen Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien.

Mouffe: Ich nenne es die postpolitische Situation, die in unserer europäischen Gesellschaft heute dominant ist.

STANDARD: Seit wann ist sie dominant?

Mouffe: Es ist ein Trend, der in Großbritannien mit New Labour begann. Die Theorie kam vom Soziologen Anthony Giddens. Tony Blair setzte sie dann um. Die Idee war, dass es nach dem Fall des Kommunismus keine Gegenspieler mehr gibt und auch keine Alternative zum liberalen Kapitalismus.

STANDARD: Den Satz "Es gibt keine Alternative" hörte man aber gerade in Großbritannien schon früher, in den 1980ern ...

Mouffe: Natürlich, man nannte Margaret Thatcher nicht umsonst "Tina" - für "There is no alternative". Das Problem ist, dass am Ende die sozialdemokratischen Parteien, wie auch Labour, die These akzeptierten, dass es keine Alternative zu neoliberaler Globalisierung gäbe. Sie dachten, sie könnten dem Ganzen höchstens noch ein humanes Management verpassen.

STANDARD: Was änderte sich durch Giddens?

Mouffe: Giddens sagte: Wir können nun jenseits der alten Kategorien von links und rechts denken - wie er in seinem Buch Beyond Left and Right ausführte. Er sprach auch von einer zweiten Moderne, einer reflexiven Moderne, in die wir nun übertreten sollten. Diese Gedanken beeinflussten sehr schnell auch Deutschland. Hier war es Gerhard Schröder mit seiner neuen Mitte, der wiederum vom Soziologen Ulrich Beck beeinflusst wurde. Auch Beck hing der Idee einer zweiten Moderne nach. Zudem bekam die Individualisierung mehr Bedeutung als kollektive Identitäten, weshalb natürlich auch Gewerkschaften und ähnliche Organisationen ihre Bedeutung verloren. Nach diesen Ideen etablierte man so etwas wie den Konsens der Mitte. Das verkaufte man als Fortschritt, als Zeichen dafür, dass die Demokratie reifer geworden ist.

STANDARD: Aber Sie sehen den Konsens der Mitte als Gefahr für die Demokratie.

Mouffe: Natürlich. Aber die glaubten das damals wirklich. Ich aber halte es für keinen Fortschritt, sondern für ein Problem für demokratische Politik. Ich interessierte mich nämlich schon früh für die Konsequenzen dieser Entwicklung. Und zwar auch angesichts der Situation in Österreich und des Aufstiegs Jörg Haiders.

STANDARD: Sie meinen die Sozialpartnerschaft und die großen Koalitionen?

Mouffe: Genau. Wenn man keinen fundamentalen Unterschied zwischen Mitte-rechts und Mitte-links mehr sieht, haben die Leute bald das Gefühl, dass es nicht wirklich Sinn hat, zur Wahl zu gehen, weil sie ohnehin nichts Neues bekommen. Da gibt es zwei mögliche Reaktionen: Entweder verlieren sie das Interesse an Politik, oder sie fühlen sich von Rechtspopulisten angezogen. Denn die sagen: Ja, es gibt eine Alternative. Im Fall Österreich war das schon früher so.

STANDARD: Also verdankte Haider seinen Erfolg dem Verschmelzen der - von ihm so bezeichneten - Altparteien?

Mouffe: Das ist genau meine These. Wenn es in der Mitte keine Unterschiede mehr gibt, dann überlässt man das Terrain denen, die sagen: Nein, es gibt schon eine Alternative. Wir sahen die Entwicklung auch in Frankreich. Bei Mitterrand vollzog sich ein Schwenk während seiner Amtszeit. Von radikaleren Ideen hin zu "es gibt keine Alternative". Genauso in Spanien - so wurde diese Idee, die ich den Konsens der Mitte nenne, dominant in ganz Europa.

STANDARD: Aber irgendwo müssen sich sozialdemokratische und konservative Parteien doch noch unterscheiden, oder nicht?

Mouffe: Sozialdemokratische Parteien haben angefangen, sich um gesellschaftliche Themen zu kümmern, etwa um gleichgeschlechtliche Ehe und andere Dinge, die nichts mehr mit der Transformation von Machtverhältnissen in der Gesellschaft zu tun hatten. So konnten sie - wenn sie schon neoliberale Globalisierung akzeptierten - zumindest sagen: Wir sind ein bisschen fortschrittlicher als die anderen.

STANDARD: So etwas wie das menschliche Antlitz des Kapitalismus?

Mouffe: Ja. Ich sage nicht, dass diese Themen nicht wichtig sind, aber sie können nicht das Einzige sein, worum man sich kümmert. Es ist auch wichtig, um die Machtverhältnisse in Arbeit und Wirtschaft zu kämpfen. Man kann als Beispiel die Politik Zapateros in Spanien hernehmen, die sicher für ein so katholisch geprägtes Land gesellschaftspolitisch fortschrittlich war. Aber es war eine Politik für die Mittelklasse. Die Arbeiterklasse fühlte sich da irgendwann vergessen. Und das konnten auch wieder rechtspopulistische Parteien für sich nutzen. In Frankreich wird Marine Le Pen vor allem von Ex-Wählern der Sozialisten gewählt. Die Arbeiterklasse sagt sich: Okay, die interessieren sich nur für Migranten, nicht für uns.

STANDARD: Rechtspopulisten interessieren sich aber auch nicht für die sogenannte Arbeiterklasse.

Mouffe: Natürlich nicht, aber sie sind die Einzigen, die zu ihnen sprechen. Denn es ist wahr, dass sich die sozialdemokratischen Parteien nicht wirklich für sie interessieren. Weil sie erkennen, dass da große Probleme bestehen. Haider versuchte zusätzlich auch zu anderen, zu den sogenannten Yuppies, zu sprechen.

STANDARD: Nachdem wir jetzt den Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa beobachteten, kommt jetzt - wie in Griechenland und Spanien - die Zeit der Linkspopulisten?

Mouffe: Die ersten Reaktionen kamen über Jahrzehnte nur von rechts. Was eigentlich nicht logisch war. In den letzten Jahren tauchten dann Bewegungen wie Occupy in New York oder die Indignados oder 15-M-Bewegung in Spanien auf, die auch Widerstand gegen die herrschende Ordnung üben, aber von einer fortschrittlicheren Seite kommen. Dieses Bürgererwachen ist gut. Aber das Problem ist, dass sie bald an Grenzen stoßen, weil sie überhaupt nicht in irgendwelche Parteien oder Parlamente wollen. Sie sind rein horizontal organisiert. Es sind selbstorganisierte Sozialbewegungen, die nichts mit Politik am Hut haben.

STANDARD: Also eigentlich anarchistische Bewegungen?

Mouffe: Ja, das ist eine Form von Anarchie. Die Konsequenz ist aber, dass sich die Dinge nicht ändern. Nach dem 15. Mai 2011, als sich die Indignados (deutsch: die Empörten, Anm.) erhoben, gewannen die Rechten die Wahlen in Spanien. Denn es gab zwar viel Mobilisierung, aber die Indignados rieten dazu, niemanden zu wählen.

STANDARD: Das wollten die Leute, die Podemos gründeten, ändern.

Mouffe: Podemos begann erst im Jänner des Vorjahres. Diese Leute waren teils schon aktiv an der Mobilisierung der Indignados beteiligt, aber schon früh kritisch, was die horizontale Struktur anging. Sie dachten damals noch nicht an die Gründung einer Partei, aber sie sahen, dass das System kollabierte und man die Mobilisierung der 15-M-Bewegung nicht einfach ungenützt lassen konnte. Deshalb gründeten sie eine Partei. Sie betonen noch heute, nicht die Partei der 15-M zu sein. Von denen sie übrigens viele kritisch beäugen, weil sie zu vertikal seien.

STANDARD: Syriza hat eine andere Entstehungsgeschichte als die linken Spanier ...

Mouffe: Syriza kommt aus der inländischen kommunistischen Partei, also jenem Teil der Kommunisten, der sich von der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) abspaltete und während des Bürgerkriegs nicht ins Exil ging, sondern - teils jahrelang im Gefängnis - im Land blieb. Das war der eurokommunistische Flügel. Später nannten sie sich griechische Linke, dann bildeten sie mit der KKE ein Wahlbündnis. Anfang der 1990er schied die KKE aus, aber das Linksbündnis bestand als Syriza weiter. Syriza entstand also langsam, Podemos ist noch ganz jung.

STANDARD: Was unterscheidet Linkspopulismus von Rechtspopulismus?

Mouffe: Parteien wie Syriza und Podemos sind nicht bloß Parteien, sie sind so etwas wie Parteien-Bewegungen. Das Spezielle an ihnen ist, dass sie zwar Parteien sind, die an Wahlen teilnehmen, aber mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten, die nicht Teil von ihnen sind. Rechtspopulisten sind da viel autoritärer. Was aber beide gemeinsam haben, ist das Ziel, eine populäre Bewegung zu begründen.

STANDARD: Populismus ist als Begriff negativ besetzt. Man wittert Tricks, Manipulation und Lügen. So verstehen Sie linken Populismus aber nicht ...

Mouffe: Tatsächlich sind es die Parteien der Mitte, die jede Gruppe, die den Status quo hinterfragt, als Populisten abtun. Das ist sehr praktisch für diese Parteien. Da muss ich kurz zur Ära Haider zurückkommen: Damals, als Haider Erfolg bei den Wählern hatte, haben die großen Parteien ausschließlich mit Verachtung reagiert, anstatt sich zu fragen, warum große Teile der arbeitenden Bevölkerung der FPÖ zulaufen. Zuerst verlassen sie die Arbeiter, dann verachteten sie sie. Populismus konstruiert tatsächlich immer Fronten.

STANDARD: Müssen Fronten per se immer schlecht sein?

Mouffe: Nein, absolut nicht. Eine meiner Thesen ist: Politik muss parteiisch sein, sie muss Grenzen schaffen zwischen "uns" und "denen". Natürlich können diese Frontlinien ganz verschieden verlaufen. Manche sind sehr negativ für Demokratien, andere gut, weil sie fortschrittliche Veränderungen fördern. Populistische Politik konstruiert diese Fronten zwischen dem Volk - im Sinn vom griechischen Demos - und dem Establishment. Aber das Volk kann man natürlich rechts oder links definieren. In Frankreich kreiert etwa Marine Le Pen das Volk als "die guten eingeborenen, biologischen Franzosen". Die "anderen" sind die Migranten. Bei den Linken ist das freilich anders. Hier sind die Migranten Teil der Arbeiterklasse, Teil des "wir", die Gegner sind zum Beispiel große multinationale Konzerne. Ich bin überzeugt, dass der Linkspopulismus im Moment der einzige Weg ist. Das System der Mitte kollabiert. Und man darf das Feld auf keinen Fall den Rechtspopulisten überlassen. Spanien und Griechenland beweisen das gerade. Von Syriza hängt viel ab. Wenn Syriza Erfolg hat, wird das in ganz Europa Konsequenzen haben. Deswegen wollen die Regierungen der EU Syriza auch unbedingt zerschlagen. Sie haben einfach Angst vor ihnen. (Colette M. Schmidt, 9.5.2015)