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Ein Akt der Versöhnung: Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus bei der Ehrung in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vergangenen Freitag.

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Der junge Martin Karplus auf Reisen in Marineland, USA, 1956: fotografiert durch den Selbstauslöser seiner Rolleiflex.

Foto: Martin Karplus

STANDARD: Sie haben vergangene Woche von Bundespräsident Heinz Fischer das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst erhalten. Sie wurden Ehrenmitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Was noch kommt, ist das Ehrendoktorat der Universität Wien und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien. Wie fühlen Sie sich angesichts dieser vielen Ehrungen?

Martin Karplus: Ich bin vor 75 Jahren aus Österreich weg und habe danach nie etwas von diesem Land gehört. Und jetzt bin ich hier und werde behandelt wie ein Rockstar. Man versucht natürlich, etwas gutzumachen.

STANDARD: Aber wie soll das gelingen? Sie wurden vertrieben.

Karplus: Natürlich kann man es nicht wieder gutmachen, was in der Vergangenheit passiert ist. Man kann sich aber daran erinnern und darauf achten, dass es nicht noch einmal passiert. Da muss man schon sehr aufpassen. Schlechte Menschen unterscheiden sich auf den ersten Blick nämlich kaum von guten. Man ahnt nicht, dass sie plötzlich viele Menschen töten können, sie würden es auch jederzeit abstreiten. Ich versuche meinen plötzlichen Ruhm als Nobelpreisträger dafür zu nützen, um mit jungen Leuten, die die Nazizeit ja nicht erlebt haben, darüber zu sprechen, deswegen werde ich auch demnächst auf der Malta-Konferenz sprechen. Da sind Menschen aus Ägypten, aus Israel, aus dem Iran oder aus Libyen zu Gast, und es ist wichtig, sich mit ihnen auszutauschen. Solche Einladungen nehme ich gerne an, weil es dabei um etwas Wichtiges geht, weil es mir ein Anliegen ist, diesen Leuten ein bisschen mehr Hoffnung auf Frieden zu geben.

STANDARD: Sie haben den Nobelpreis ja schon 2013 gewonnen, erhalten Sie heute noch viele Einladungen?

Karplus: Es ist schon besser geworden, seit es eben die neuen Nobelpreisträger gibt. Aber ich könnte zweimal pro Woche irgendwo auftreten. Das meiste sage ich ab, besonders wenn ich merke, dass es den Veranstaltern nur um meinen Namen geht, dass sie sich mit einem Nobelpreisträger schmücken wollen. Mir ist wichtig, dass es nicht um mich, sondern um die Sache geht.

STANDARD: Im vergangenen Jahr meinten Sie noch, sich von Österreich vereinnahmt und ausgenützt zu fühlen. Jetzt wirken Sie versöhnlicher. Stimmt dieser Eindruck? Wie denken Sie heute über dieses Land?

Karplus: Ich habe lange Zeit gar nicht an Österreich gedacht. Eines Tages sagte man mir, ich sollte die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen, denn dann könnte ich innerhalb der EU überall hinfahren. Man sagte mir auch, dass ich mithilfe eines Anwalts Geld zurückfordern könnte. Aber das interessierte mich nicht. Ich beantragte dennoch die Staatsbürgerschaft. Dafür muss man ja Fingerabdrücke nehmen lassen, damit die Behörden sichergehen können, dass man in keiner Verbrecherkartei aufscheint.

STANDARD: Tatsächlich?

Karplus: Ja, das war lustig, denn man sagte mir schließlich, dass diese Abdrücke in meinem Alter nicht mehr gelesen werden können. Ich habe die Staatsbürgerschaft schließlich trotzdem erhalten und wenig später erfahren, dass ich sie nie verloren hatte, denn von 1938 bis 1945 gab es kein Österreich. Wie ich heute über dieses Land denke? Wenn man eine längere Zeit wieder auf Besuch ist, ändert sich das Bild. Ich werde diese Frage wohl erst in ein paar Monaten wirklich beantworten können, wenn ich wieder zurück bin und alle Eindrücke verarbeitet habe.

STANDARD: Kommen Sie angesichts dieser vielen Reisen noch zum Nachdenken über Wissenschaft?

Karplus: Ganz kann man das nie aufgeben. Im vergangenen Jahr habe ich zum Beispiel begonnen, mich für Hirnforschung zu interessieren. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich erkannt, dass man dieselben Methoden, die die Wissenschaft anwendet, um Proteine zu analysieren, auch anwenden kann, um das Gehirn besser zu verstehen - selbstverständlich nicht das des Menschen, sondern das eines beliebten Tiermodells, des Fadenwurms C. elegans. Es war keine weltbewegende Arbeit, aber die Kollegen, die mit C elegans arbeiten, sagten mir, dass sie überrascht waren.

STANDARD: Wie sind Sie von Ihrem angestammten Gebiet der theoretischen Chemie ausgerechnet zur Gehirnforschung gekommen?

Karplus: Ich habe immer gesagt, alle vier Jahre etwas Neues machen zu wollen. Andere wollen Tiefgang in einem Bereich. Ich glaube, wenn man immer wieder etwas Neues macht, bleibt das Gehirn jung - und mit ein bisschen Glück auch der ganze Körper. Und so weit ist der Weg nicht. Man braucht die Chemie, um Biologie zu verstehen.

STANDARD: Apropos Chemie: Sie haben den Nobelpreis für die Entwicklung universeller Computermodelle für die Voraussage chemischer Prozesse erhalten. Sie sagen selbst, das sei gar nicht der wichtigste Teil Ihrer Arbeit gewesen, das sei vielmehr die Simulation molekularer Dynamik. Irgendeine Idee, warum sich das Nobelpreiskomitee so entschieden hat?

Karplus: Ich habe wirklich keine Ahnung, da müssten Sie in 50 Jahren in Stockholm in den Büchern nachlesen, dann werden die geöffnet und vielleicht wird es Ihnen dann klar. Ich habe da interessanterweise mit Albert Einstein etwas gemeinsam. Er hat den Nobelpreis nicht für seine wichtigste Arbeit, die Allgemeine Relativitätstheorie, sondern für den "photoelektronischen Effekt" erhalten. Nun hält ja jeder Nobelpreisträger eine Rede, um deutlich zu machen, was ihn bei seiner Arbeit angetrieben hat. Und Einstein hat dabei nur über die Allgemeine Relativitätstheorie gesprochen. Ich habe meinen Schwerpunkt auch auf die molekulare Dynamik gelegt.

STANDARD: Sie sind auch nach Wien gekommen, um eine Ausstellung Ihrer Fotografien an der Uni Wien zu eröffnen. Was wird da gezeigt?

Karplus: Das sind Bilder, die ich während meiner ersten Europareise nach dem Zweiten Weltkrieg machte. Damals war ich 23 Jahre alt. Ich habe ja immer gern die Natur beobachtet - schon als Kind - in diesem Fall habe ich mich aber für Menschen interessiert und für ihr Leben. Und dafür, wie sich das wohl im Laufe der Jahre verändern wird. Ich bin also mit meiner Leica, die ich von meinen Eltern geschenkt bekommen habe, losgezogen. Ich habe übrigens nicht im Entferntesten daran gedacht, dass das etwas Wertvolles sein könnte. Ich hatte den Film auch lange nicht ausgearbeitet. Ein Glück, sonst wären die Bilder schon ausgebleicht.

STANDARD: Wie kam es dazu, dass Ihre Bilder ausgestellt wurden?

Karplus: Das war knapp vor meinem 70. Geburtstag. Meine Frau wollte daraus Karten machen, Man sagte ihr, dass es wichtig wäre, die Bilder in einer Ausstellung zu zeigen - die war dann in Oxford. Im Sommer 2013 schließlich wurde eine große Ausstellung in der Pariser Bibliothèque nationale de France gezeigt, wo sonst nur die großen Fotokünstler gezeigt werden.

STANDARD: Hatten Sie eine besondere Technik, um die Menschen zu fotografieren?

Karplus: Ich habe versucht, die Menschen so natürlich wie möglich zu fotografieren und habe so getan, als würde ich mich für ein anderes Objekt interessieren. Danach drehte ich die Kamera schnell zur Seite - und drückte ab. Erst vor 20 Jahren habe ich gelesen, dass der berühmte Fotokünstler Paul Strand ganz ähnlich arbeitete.

STANDARD: Fotografieren Sie heute auch noch?

Karplus: Ja, wenn ich auf Reisen bin, und wenn ich das Gefühl habe, etwas Neues zu sehen. Das wird vielleicht demnächst in Tibet sein, dort werde ich hinfahren. Eine Region, die sich natürlich viel langsamer entwickelt wie etwa Schanghai. Aber auch dort werde ich nach Veränderungen suchen. (Peter Illetschko, 13.5.2015)