Dreihundert Meter trennen mich vom Sieg. Die Zielkurve anvisiert, erblicke ich ein letztes Mal meine Verfolger im Rückspiegel und spüre die Anspannung im Nacken. Nur noch einmal bremsen, runterschalten, einlenken, dann das Gaspedal zügig zum Anschlag drücken und die 7-Liter-Maschine meines Ford GT 40 erledigt den Rest für mich. Das Fahrwerk tut sein Bestes, der Fliehkraft standzuhalten. Das Lenkrad will nach links, ich nach rechts. Ich bin etwas zu spät dran, doch es geht sich aus. Es muss sich ausgehen. Dreißig Runden Schweiß müssen sich bezahlt machen.

Es rüttelt und vibriert, ich halte die 1.000 Kilogramm Fiberglas und Stahl in der Spur. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich den Geschmack des Erfolgs auf der Zunge. Im nächsten Moment setzt der Lenkwiderstand aus. Das Heck bricht weg. Wie ein Kind festgeschnallt im Karussell, muss ich zusehen, wie mein Rivale an mir vorbeizieht und mich vom Treppchen in ein tiefes Loch stößt.

Bild: Project Cars
BANDAI NAMCO Entertainment Europe

Puristische Größe

In "Project Cars" geht es nicht darum, Traumautos oder neue Strecken freizuschalten. Alles, was man erreichen kann, ist vom ersten Start an verfügbar. Von den Karts bis zu den Formel-Boliden, sogar die Meisterschaft kann in einer beliebig hohen Klasse angegangen werden. In Slightly Mad Studios Rennspiel gibt es nur eine einzige Motivation: Ein besserer Fahrer zu werden.

Die Sucht nach der Geschwindigkeit wird mit der Konzentration auf das Wesentliche zelebriert: Authentisches Fahrgefühl gepaart mit nerdiger Detailverliebtheit. Arcade-Racer mag es zu trocken sein, doch die Belohnung Fahrzeuge und Parcours zu meistern und sich sukzessive von einem Einsteiger zu einem Profi zu entwickeln, kann ungemein befriedigend sein. Eine Leistungseinstufung ermöglicht, unbedarften wie erprobten Piloten ihren Fähigkeiten gemäß im Cockpit Platz zu nehmen.

Bild: Project Cars
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Wilde Schönheit

Ein Bauplan, der mit überschaubaren 70 aber sinnvoll selektierten, ansehnlichen Vehikeln und mehr als 100 abwechslungsreichen Strecken wie Monza oder der Nordschleife und Fantasiekursen in Bewerben mit Tourenwagen, Supercars oder auch Oldtimern realisiert wurde. Wer Zeit hat, seine Augen von der Spur abzuwenden, ergötzt sich an spektakulären Naturschauspielen, die sich von Regenstürmen und blendenden Sonnenuntergängen selbst festlegen lassen. Aus der prallen Mittagssonne heraus mit 200 Sachen in den nebeligen Wald einzutauchen, ist auch fiktiv ein magisches Gefühl.

Das Spektrum weist mangels Ferrari oder Lamborghini definitiv Lücken auf. Gerade Fans reiferer Automobile hätten sich auch die ein oder andere weitere Küsten- oder Stadtstrecke erhofft. Gravierendere Auswirkungen auf die Verwirklichung des persönlichen Autotraums hat aber die Wahl der Steuerung, die zwar mit einem Gamepad möglich ist, und auf PS4 und XBO gut von den Vibrationseffekten Gebrauch macht, aber den Simulationscharakter erst mit einem Force-Feedback-Lenkrad aufkommen lässt. Die höhere Präzision eines Lenkrads kann bei der Jagd nach der schnellsten Runde zudem schwer ersetzt werden, da selbst kleine Fehler und Ausbrüche aus der Fahrbahn mit der Aberkennung der Rundenzeit bestraft werden - selbst wenn ein Austritt nicht zum Vorteil des Fahrers ist. Ein Reglement, dass die Entwickler nochmals überdenken sollten.

Bild: Project Cars
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Orientierungslose Aggression

Wer wirklich in die Tiefe gehen möchte, findet in den vollgepackten Menüs von Reifendruck und -Neigung bis zur Spritmenge unzählige Feinabstimmungsoptionen, um bei Qualifying und Langstreckenrennen das meiste aus seinem Gefährt herauszuholen. Grobe Beschreibungen und Ansagen über den Boxenfunk geben zwar grobe Anleitungen, Neulinge müssen sich jedoch selbst im Internet zu Mechanikern ausbilden, um vollends durchzublicken.

Will man sich nicht online mit anderen Spielern messen, darf man im Einzelrennen genauso wie in der einfach gestrickten Karriere mit bis 40 computergesteuerten Kontrahenten um die Plätze ringen. Sprichwörtlich, denn die KI-Gegner legen eine erfrischend frivole bis unrealistisch gefährliche Aggressivität an den Tag, wie man sie von anderen Genrewerken nicht kennt und nicht kennen will: Denn so spektakulär das Schadensmodell ist, so frustriert ist man nach dem fünften Auffahrunfall zum Grand-Prix-Start.

Neben diesen grundlegenderen Problemen störten bei der Testfahrt mit der PS4-Version etwaige kurze Soundausfälle, merkliche, aber verkraftbare Bildrateneinbrüche bei vielen KI-Fahrern im Pulk, teils langsamer Verbindungsaufbau beim Multiplayer und kleinere Bugs wie die Rücksetzung von Menüeinstellungen. Gröbere Performanceprobleme scheinen, wie berichtet, unterdessen PC-Spieler mit AMD-Grafikkarten zu verzeichnen.

Bild: Project Cars
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Fazit

Wenngleich auch Einsteigern ein Platz im Rennstall angeboten wird, stellt Project Cars speziell auf Konsolen eine bildschöne, aber anspruchsvolle Alternative für Simulationsfans. Für Puristen wird es nicht an PC-Titeln wie "Assetto Corsa" vorbeiziehen und Autosammler und Tuningcracks werden mit "Forza Motorsport" und "Gran Turismo" weiterhin besser bedient. Doch dem britischen Newcomer quillt die Freude am Fahren nicht minder üppig aus den Poren. Vielen wird der Ansatz, Bewerbe und Fahrzeuge umwegslos zu offerieren, vielleicht sogar besser gefallen. Kein Überflieger, aber klar ein neuer Sieganwärter. (Zsolt Wilhelm, 17.5.2015) Dem Autor auf Twitter folgen: @ZsoltWilhelm

"Project Cars" ist für Windows-PC, PS4 und XBO erschienen. Versionen für SteamOS und Wii U sollen folgen. UVP: 59,99 Euro

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