Bildung wird vererbt. Das ist soziale Wirklichkeit, die auch für die österreichische Gesellschaft gilt und auch schon in zahlreichen Studien belegt wurde. Schuld daran, sagen die Bildungswissenschafter und Soziologen, ist unter anderem unser Bildungssystem, das Schüler sehr früh segregiert und keine Chancengleichheit schafft. Jugendliche mit Migrationshintergrund, insbesondere wenn sie aus sogenannten bildungsfernen Familien stammen, können ihren Startnachteil im Laufe ihrer Bildungskarriere nur schwer überwinden und zählen oft zu den sogenannten Bildungsverlierern.

Schauen wir uns zunächst die Schülerstruktur in den unterschiedlichen Schultypen an. Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen nach wie vor seltener höher bildende Schulen, Burschen zudem deutlich seltener als Mädchen. So haben im Schuljahr 2013/14 in der Unterstufe nur 14,2 Prozent der Schüler mit türkischer Umgangssprache eine AHS-Unterstufe besucht. Bei Burschen mit deutscher Umgangssprache waren es 34,7 Prozent. Schaut man in die Oberstufe, wird es ebenfalls deutlich, dass Schüler mit Türkisch, aber auch mit Bosnisch/Serbisch/Kroatisch (B/K/S) als Umgangssprache deutlich unterrepräsentiert sind. Während beispielsweise etwas mehr als jedes vierte Mädchen mit deutscher Umgangssprache eine AHS-Oberstufe besucht, sind es bei den Türkisch sprechenden Burschen nur jeder zehnte und bei den B/K/S sprechenden nur jeder neunte. Bei den Mädchen gab es in der Oberstufe kaum Unterschiede zwischen Personen mit deutscher und einer anderen Umgangssprache.

Warum es unter den Migranten einen so großen Gendergap gibt, wurde bisher nur teilweise untersucht. Der Armutsexperte Martin Schenk beobachtet diesen Trend schon seit längerem und sagt: "Die Mädchen werden auf die Bildungsreise geschickt, während die Burschen ein Einkommen am Arbeitsmarkt erwirtschaften sollen. Bei den Burschen aus sozial schwächeren Familien hat sich da seit den 1970er-Jahren wenig verändert, bei den Mädchen ist es insofern ein neues Phänomen, als man sie damals eher auf die Heimarbeit und frühes Heiraten vorbereitet hat."

Wie das österreichische Bildungssystem Migranten benachteiligt. Ursachen und Lösungen.
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Migranten überrepräsentiert in Sonderschulen

In den Sonderschulen hingegen sind Migranten überrepräsentiert. Obwohl Kinder mit nichtdeutscher Umgangssprache österreichweit nur knapp 21,1 Prozent aller Schüler ausmachen, ist fast jeder dritte Sonderschüler ein Schüler mit einer anderen Umgangssprache als Deutsch. Knapp zwei Drittel der Sonderschüler, unabhängig von der Umgangssprache, sind Burschen. "Wenn wir nicht davon ausgehen, dass Migranten dümmer sind, dann kann die Grundlage dafür, sie in die Sonderschulen zu transferieren, nur an den Sprachschwierigkeiten liegen. Diese sind jedoch eine Indikation für Sprachunterstützung und nicht für Sonderschulen", sagt Mario Steiner vom Institut für Höhere Studien.

In der Folge geraten viele Migranten in einen Teufelskreis, "weil ihnen die Sonderschulen keine Bildungstitel verleihen, die es ihnen erlauben würden, im Bildungssystem voranzuschreiten, da ein Sonderschulabschluss in den meisten Fällen nicht dazu berechtigt, in die Sekundarstufe II aufzusteigen".

Early-School-Leaving-Rate bei Migranten sehr groß

Eine andere Statistik verdeutlicht die Benachteiligung der Migranten im österreichischen Bildungssystem: Etwa jeder sechste jugendliche Migrant zählt zu den sogenannten Early School Leavers. Bei Migranten aus Drittstaaten ist es sogar fast jeder vierte. Bei Personen ohne Migrationshintergrund ist es aber nur jeder zwanzigste. Early School Leavers, auf Deutsch "Frühe Schulabbrecher" oder "Frühe Bildungsabbrecher", sind Personen, die zwischen 18 und 24 Jahre alt sind, keinen Abschluss der Sekundarstufe II haben und nicht an Aus- oder Weiterbildungen teilnehmen.

"Das sind alarmierende Zahlen in Zeiten steigender Qualifikationsanforderungen an die Arbeitnehmer, denn das Arbeitslosigkeitsrisiko von Frühen Schulabbrechern ist doppelt so hoch im Verhältnis zu Personen mit einem Abschluss der Sekundarstufe II. Ihr Risiko, dass sie nicht über Hilfsarbeit hinauskommen, ist viermal so hoch, und das Risiko, dass sie nicht einmal zum Arbeitskräftepotenzial gezählt werden, also als Personen 'out of labour force' gelten, sind siebenmal so hoch", sagt Mario Steiner.

Geringer Gendergap, großer Migrationsgap

Grundsätzlich sind männliche etwas stärker als weibliche Jugendliche vom frühzeitigen Bildungsabbruch betroffen. Wie im europäischen Vergleich ist auch die Anzahl der frühen Schulabbrecher in Österreich laut Statistik Austria leicht rückgängig. Bei den Mädchen geht diese Entwicklung etwas schneller voran als bei den Burschen. So zählten in Österreich im Jahr 2001 10,7 Prozent der Mädchen und 9,7 Prozent der Burschen als frühe Bildungsabbrecher (zum Vergleich Zahlen aus dem Jahr 1995: 17,3 Prozent Frauen, 9,9 Prozent Männer). Laut Zahlen der Statistik Austria aus dem Jahr 2014 liegt die Early-School-Leaving-Rate aktuell bei den Burschen mit 7,6 Prozent etwas höher als bei den Mädchen mit 6,5 Prozent.

In diesem Zusammenhang wird über Burschen vielfach als Bildungsverlierer gesprochen – zumeist aus der Ecke von Männerrechtsbewegungen. Elli Scambor vom Institut für Männer- und Geschlechterforschung Graz hat sich im Rahmen der im Jahr 2014 erschienen Studie "Bewegung im Geschlechterverhältnis? Zur Rolle der Männer in Österreich im europäischen Vergleich" mit der Frage auseinandergesetzt, ob Burschen die Bildungsverlierer sind. In der Studie wurden Zahlen aus dem Jahr 2009 verglichen. "Was wir feststellen konnten, ist, dass es in Österreich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, aber einen dramatischen Unterschied zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund", sagt Scambor.

Die Zahlen, die für die Studie interpretiert wurden, sind alarmierend: Während die Schulabbrecherquote bei männlichen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund bei sechs Prozent lag, war sie bei bei männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei 22,4 Prozent. Bei den Frauen war der Unterschied im Jahr 2009 noch etwas größer: bei Frauen ohne Migrationshintergrund 5,6 Prozent und bei Frauen mit Migrationshintergrund 22,6 Prozent. Einen so drastischen Unterschied zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund gab es sonst nur in Griechenland.

Die neuesten Zahlen der Statistik Austria für das Jahr 2014 zeigen, dass sich an dem Verhältnis der frühen Bildungsabbrecher zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nur wenig verändert hat: Burschen ohne Migrationshintergrund 5,0 Prozent, Burschen mit Migrationshintergrund 16,8 Prozent; Mädchen ohne Migrationshintergrund 4,2 Prozent, Mädchen mit Migrationshintergrund 14,2 Prozent.

Kritik an statistischer Erhebung

Mario Steiner kritisiert in dem Zusammenhang vielfach die Erhebungen und die Kriterienauswahl bei der Berechnung der Frühen Schulabbrecher. Erstens wird das Kriterium, "in Aus- und Weiterbildung zu sein", derzeit so operationalisiert, "dass es ausreicht, dass eine Person einen Kurs in der Erwachsenenbildung besucht, um nicht mehr als Früher Schulabbrecher zu gelten; hier bräuchte es eine strengere Definition", so Steiner. Auch würden die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nicht stark genug hervorgehoben. "Einerseits basieren die Erhebungen auf einer Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung, einer Ein-Prozent-Stichprobe der österreichischen Bevölkerung, und wenn man dann noch zwischen den Geschlechtern und dem Migrationshintergrund unterscheidet, werden die Gruppen so klein, dass die statistische Unsicherheit sehr groß wird."

Mario Steiner über frühe Selektion in unserem Bildungssystem.
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Auf der anderen sei die Definition von Migrationshintergrund auch hinterfragenswert. "Wir haben eine sehr weiche Definition von Migrationshintergrund bei dieser statistischen Erhebung. Beispielsweise reicht es aus, dass ein Elternteil in Österreich geboren ist, unabhängig davon, wo das Kind und das zweite Elternteil geboren sind, um schon als Kind ohne Migrationshintergrund zu gelten", so Steiner.

Warum es anderswo besser läuft.
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Um einen Trugschluss zu vermeiden, sollte zudem zwischen Migranten aus EU-Ländern und aus Drittstaaten unterschieden werden, um die Benachteiligung bestimmter Gruppen deutlicher zu machen. Denn schließlich sind die größte Migrantengruppe die Deutschen, und diese fallen zwar auch unter Personen mit Migrationshintergrund, "werden von unserem Bildungssystem aber viel weniger benachteiligt", sagt Steiner.

Schaut man sich die Zahlen nach dem Kriterium Drittstaatenzugehörigkeit an, so steigt die Early-School-Leaving-Rate bei Migranten der ersten Generation auf knapp 26 Prozent – ist also etwa fünf- bis sechsmal so hoch wie bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund.

Bildungsbürgerlicher Habitus schafft Defizitorientierung

Roland Verwiebe, Vorstand des Instituts für Soziologie der Universität Wien, sagt: "Unser Bildungssystem widerspiegelt unsere gesellschaftlichen Verhältnisse. Wir haben ein sehr hierarchisches und selektives Bildungssystem, das die sozial Schwächsten, zu denen sehr häufig Migranten zählen, benachteiligt."

Die Bildungswissenschafterin Susanne Tschida ergänzt, dass in unserem Bildungssystem ein gewisser "bildungsbürgerlicher Habitus" reproduziert wird und alles, "was diesem Habitus widerspricht, als problemhaft eingeschätzt wird". In der Folge wird stärker auf die Defizite der Migranten geschaut, statt ihre mitgebrachten Ressourcen, nämlich das Beherrschen einer anderen Sprache, zu fördern. Tschida fordert einen "Schulkulturwandel", bei dem verstärkt Muttersprachenunterricht angeboten wird.

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Gesamtschule ist nicht gleich Gesamtschule

Die schon seit langem in den Debatten über eine Bildungsreform geforderte Gesamtschule sei unumgänglich, sagen die Experten und Expertinnen unisono. Diese würde die frühe Selektion im Bildungssystem aufheben und dadurch eine größere soziale Mobilität in Österreich (falls diese gewünscht ist) ermöglichen. Martin Schenk warnt aber davor, den Fehler zu machen, zu glauben, dass Gesamtschule gleich Gesamtschule ist. "Es gibt Modelle von Gesamtschulen, die nicht fähig sind, in durchmischten Gruppen zu unterrichten, und dann sind die Ergebnisse noch schlechter." Gefordert wird eine Gesamtschule, "die von der Lehrer- und Unterrichtsqualität her in heterogenen Gruppen unterrichten kann".

In dem Zusammenhang müsse auch nochmals darüber diskutiert werden, "welche Sprachen in der Schule gesprochen werden dürfen", sagt Tschida. Zudem müsse, um der Heterogenität in den Schulklassen gerecht zu werden, vermehrt Lehrpersonal mit Migrationshintergrund an den Schulen unterrichten.

Neue Bildungsreform wird gefordert

Roland Verwiebe sagt: "Die Bildungsreform aus den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts war insofern erfolgreich, als sie die fundamentalen Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufgehoben hat. Sie ist jedoch darin gescheitert, die Bildungschancen von Kindern aus den unteren sozialen Schichten zu erhöhen."

Roland Verwiebe spricht von einer dringend nötigen Bildungsreform.
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Generell gebe es in Österreich zwar eine Bewegung hin zu mehr Bildung, auch unter den Migranten. "Die Migranten sind eine sehr heterogene Gruppe, wo es auch eine sehr starke Tendenz hin zu höherer Bildung gibt, das beweisen die neuesten Statistiken", so Verwiebe (mehr zur Heterogenität unter den Migranten in den nächsten Folgen). Dennoch sei es für viele bildungsferne und finanziell schwächere Familien noch immer sehr schwierig, beispielsweise auf ein Lehrlingseinkommen zu verzichten und stattdessen die Bildungskarrieren ihrer Kinder zu fördern. Viele Jugendliche würden zu einer Ausbildung gedrängt, die sie gar nicht machen wollen, was das Risiko des frühen Bildungsabbruchs erhöht.

Verwiebe erklärt, wieso Reformen scheitern.
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(Text und Video: Siniša Puktalović, Produktion: Olivera Stajić, 18.5.2015)