Russland-Kenner Figes: "Die Kollektivierung war eigentlich die Revolution, und es war die größte Katastrophe. Das Land hat sich davon bis heute nicht erholt."

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STANDARD: Herr Figes, Sie beschreiben die russische Revolution als einen 100 Jahre langen "Zyklus der Gewalt", der 1891 begann. Warum gerade dieses Datum?

Orlando Figes: Man muss mit der Hungerkrise beginnen, die 1891 ausbrach. Damals begann in Russland eine Politisierung der Gesellschaft in großem Stil, das kulminierte 1905 in einem ersten revolutionären Anlauf. Und das endet schließlich erst 1991, zumindest dachten wir das lange Zeit so. Mit 1991 verbindet sich die Vorstellung, Russland könnte eine wie auch immer unfertige oder unvollkommene Demokratie werden und nicht so in seiner Geschichte stecken bleiben, wie es jetzt den Eindruck erweckt.

STANDARD: Die Revolution fand also nicht nur im Oktber 1917 statt und hörte auch nie so richtig auf?

Figes: Stalin dachte, er setzte Lenins Revolution fort. Chruschtschow dachte, er kehrte zu ihr zurück. Breschnew hielt sich für einen Wächter der sowjetischen Revolution. Und Gorbatschow war tatsächlich ein Revolutionär im leninistischen Sinn. Er analysierte die Probleme und suchte nach Lösungen im Rahmen der Parteiherrschaft.

STANDARD: Woher stammt die große, rücksichtslose Bereitschaft zur Gewalt in diesem revolutionären Russland? Sehen Sie dafür eher individuelle oder andere, übergreifendere Gründe?

Figes: Das lässt sich schwer auseinanderhalten. Die Revolution von 1917 kam aus dem Ersten Weltkrieg, es herrschte eine globale Krise, Leben galt nicht viel. Feuer ist ein gutes Bild für die Revolution. Man wollte die Religion und bourgeoise, individualistische Instinkte auslöschen, aus dem Feuer sollte ein Homo sovieticus erstehen. Die Bolschewiken hatten die Gewaltbereitschaft nicht exklusiv, aber Lenin wies den Weg. Der Bürgerkrieg wird ein Modell, Massenterror wird damit zu einem notwendigen Instrument. Man muss sich des Staates bemächtigen, es folgt die soziale Revolution, die Vernichtung der Feinde. Das ist das leninistische Modell, das ungeheuer einflussreich für Länder der Dritten Welt wurde, die keine Zeit haben für langsamere Modelle. Eine militarisierte Avantgarde neigt nun einmal zur Gewalt.

STANDARD: Eine entscheidende Weichenstellung war die Kollektivierung der Landwirtschaft Ende der 20er-Jahre. Sie wird inzwischen stark auch unter nationalen Gesichtspunkten gesehen: Für die Ukraine ist die Erinnerung an den Hungergenozid (Holodomor) wesentlicher Teil der Identität.

Figes: Die Ukrainer heben das stark hervor, und sie haben alle Gründe dazu. Für mich als Historiker, dessen Forschungen mit den Bauern begannen, ist klar, dass man immer zuerst auf diesen Sektor schauen muss, um zu verstehen, was in Russland vor sich geht. Die Kollektivierung war eigentlich die Revolution, und es war die größte Katastrophe. Das Land hat sich davon bis heute nicht erholt. Unter Stalin haben die Russen das Arbeiten verlernt. 60 Jahre später wollte Gorbatschow den Bauern Land zurückgeben, aber niemand wollte es bebauen. Eine chinesische Veränderung des Kommunismus war in Russland nicht möglich, die Gründe dafür finden wir in dieser Periode der rigorosen Verstaatlichung der Landwirtschaft.

STANDARD: Junge ukrainische Intellektuelle pochen auch darauf, dass 1918 bis 1920 zwischen Russland und der Ukraine ein Krieg im Gang war, während diese Periode bei Ihnen ein Teil im großen Bürgerkriegsszenario zwischen den "Weißen" und den "Roten" bleibt.

Figes: Man versteht, warum aus ukrainischer Perspektive die Sowjetisierung wie eine Invasion wirkt. Aber die Nationalisten waren schwach und gespalten, manche wollten mit den Deutschen zusammenarbeiten, andere waren gegen die Deutschen, dann gab es noch Anarchisten. Kiew hatte in dieser Zeit mehr als ein Dutzend Machthaber. Mir erscheint das zu komplex, um es auf einen Krieg zwischen zwei nationalen "Einheiten" zu reduzieren. Ich halte es auch für bedenklich, wenn man in der Ukraine heute teilweise versucht, die Geschichte so umzuschreiben, als hätte 75 Jahre der Albtraum eines Besatzungsregimes auf dem Land gelastet. Das nützt nationalistischen Politikern, die gegen Russland kämpfen, aber es ist einseitig und politisch nicht verantwortungsvoll.

STANDARD: War die Phase des "Tauwetters" in der Sowjetunion um 1960 vielleicht eine Gelegenheit, den Sozialismus als System zu retten? Oder war er unrettbar?

Figes: Die Antwort hat die Geschichte gegeben. Chruschtschow hatte es gewagt, den Stalinismus kritisch in Augenschein zu nehmen. Das war aber der Anfang vom Ende. Denn wenn die Partei immer recht hat, wie kann sie dann solche Fehler machen? Wie findet man da wieder zur Autorität zurück? Im Tauwetter wachte die Intelligenzija auf, aber man kann Stalins System nicht entstalinisieren. Um es in einem drastischen Bild zu sagen: Man kann nicht unschwanger werden, das geht nur mit einer Abtreibung.

STANDARD: Eine Abtreibung, die womöglich bis heute nicht stattgefunden hat. Die Historikerin Karen Dawisha beschreibt in einem neuen Buch Putins Kleptokratie als große KGB-Intrige, die bis vor 1989 zurückreicht und bei der es nie um Demokratie ging, sondern um vollständige Übernahme des Staates durch ein Netzwerk von Insidern. Ist das überzeugend?

Figes: Insgesamt stimme ich zu. 1991 war sicher keine Revolution, die meisten Mächtigen fanden gut ins Jelzin-System, alte Klientel-Netzwerke aus dem Sowjet-System funktionierten gut, der Staat wurde privatisiert. Heute ist ein Tschekist an der Macht, und der alte KGB ist stark, allerdings ist mir die Darstellung von Karen Dawisha zu linear: Es war nicht alles so folgerichtig, wie sie es jetzt rekonstruiert.

STANDARD: Nach den westlichen Sanktionen konnte man in den Medien lesen, dass Russland jetzt einmal mehr versucht, die Landwirtschaft per Dekret in Schwung zu bringen.

Figes: Das sind bezeichnende Nachwirkungen des Sowjetsystems. Die Planwirtschaft mit ihren oft unrealistischen Zielen wurde von oben implementiert, es gab wenig Initiative von unten, keine Dynamik. Korruption und Bürokratie lähmen bis heute alles, dazu ist eine ausgeprägte Kleptokratie an der Macht, da entsteht vielleicht ein Service-Sektor, aber das Land wird kannibalisiert. Wir sehen die ökonomische Fortsetzung der Breschnew-Zeit. Es wird nicht viel produziert. Diversifizierung ist notwendig, würde aber bedeuten, dass der kleine Zirkel an der Macht die Zügel lockern muss.

STANDARD: Wo sehen Sie Ressourcen für eine Zivilgesellschaft?

Figes: Ich bin pessimistisch. Ich denke, 2011/12 war der relevante Moment, und es kam nicht viel heraus. Die Opposition erwies sich als schwach, es wurde kalt, man ging nach Hause. Im Februar 1917 wuchsen die Massen mit jedem Tag, und das Regime verlor die Nerven. Das scheinen die Russen vergessen zu haben. Vermutlich sind viele in den Westen gegangen, weil es ihnen reicht.

STANDARD: Kann man sagen: Die Russen hatten eine Überdosis Revolution, jetzt können sie nicht mehr?

Figes: Das trifft wirklich etwas. Die Leute sind unter Breschnew apolitisch geworden, sie akzeptieren den Staat und seine gelegentlichen Gewaltausbrüche. Wo sind die zivilen Kräfte? Wo sind die Parteien? Wo sind die Berufsvereinigungen? Wo sind die Umweltschützer? Sie sind alle da, aber Gewicht haben sie nicht.

STANDARD: Der Westen steht auch vor dem Problem, wie mit der Annexion der Krim durch Russland umzugehen ist. Was zählt mehr: die Eingliederung in die sowjetische Ukraine durch Chruschtschow 1954 oder die "Unabhängigkeit" von 1774, durch die sie de facto russisch wurde?

Figes: Das ist eine heikle Frage. Auf jeden Fall aber sollte ein politisches Schicksal nicht durch Annexion entschieden werden. Alle Menschen auf der Krim sollten gehört werden. Niemand fragt die Krimtataren, die werden drangsaliert. Zweifellos fühlen sich viele Bewohner der Krim als Russen. Das ist einer dieser Teile der Welt, die "am falschen Ort" sind. Die Krim hängt nun einmal an der Ukraine, die Geschichte der Ukraine ist so verschränkt mit der Russlands, nun ist daraus ein Problem geworden.

STANDARD: Die Geschichte gibt hier keine Antwort?

Figes: Hier hilft die Geschichte überhaupt nicht. Putin beruft sich auf einen Teil der Geschichte, aber nicht auf die Geschichte. (Bert Rebhandl, 16.5.2015)