Die ukrainische Idee könne nur verstanden werden, wenn das Land – ungeachtet der politischen Färbungen, die es geprägt haben – frei von den Großmächten betrachtet werde, sagt der ukrainische Autor Jurko Prochasko.

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Frauen demonstrieren am Jahrestag der Maidan-Schüsse.

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Der ukrainische Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker Jurko Prochasko betrachtet die Maidan-Revolution als das Reifezeugnis der ukrainischen Zivilgesellschaft. Sie habe Fragen aufgeworfen, die auch für Westeuropa von Relevanz seien. Die Reaktionen dort empfindet Prochasko als ignorant, ängstlich und voller Argwohn. Die Ukraine würde sich von Westeuropa eine aufrichtige Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit ihrer Kultur und Politik wünschen.

STANDARD: Wie erleben Sie die aktuelle Lage in der Ukraine mehr als ein Jahr nach den Aufständen auf dem Maidan?

Prochasko: Ich sehe drei unterschiedliche Krisen: eine Krise des Pathos, eine Krise des Vertrauens sowie eine Krise zeitlicher Ressourcen. Unter die Krise des Pathos fällt eine grundsätzliche Kriegsmüdigkeit, wodurch auch der Zusammenhalt in der Gesellschaft schwindet. Es kommen Zweifel auf. Dazu zählen auch die schrumpfenden materiellen und finanziellen Ressourcen, die zunehmend zu Verarmung führen. Die Krise des Vertrauens äußert sich darin, dass die grundlegenden Reformen, die das Land braucht, in ihrer Umsetzung noch nicht sichtbar sind, das weckt Misstrauen. Hinzu kommt die Krise der zeitlichen Ressourcen: Wenn nicht möglichst bald gehandelt wird, dann kommt genau das zum Tragen, worauf Putin abzielt – eine Destabilisierung und ein Kontrarevolutionskrieg.

STANDARD: Der Aufstand auf dem Maidan wird häufig als Fortsetzung der Orangen Revolution (2004, Anm.) gesehen. Inwiefern hängen die beiden Ereignisse zusammen?

Prochasko: Für mich gehören die beiden Ereignisse unweigerlich zusammen. Den Vorläufer der Maidan-Aufstände würde ich gar noch früher als bei der Orangen Revolution ansetzen: in der klassischen liberalen Revolution von 1848. Der Ukraine ist seither die Durchsetzung des Programms der Bürgerfreiheit nie gelungen, sie hat nie so etwas wie eine Wende erlebt. Es gab Herrschaften, eine Zweiteilung nach dem Ersten Weltkrieg, die Souveränität konnte sich nicht behaupten. Bei der Orangen Revolution hat die Zivilgesellschaft zum Ausdruck gebracht, was sie nicht will, allerdings wusste sie noch nicht, was sie will. Zehn Jahre später bei der Revolution auf dem Maidan wusste sie, was sie will. Die Orange Revolution war sozusagen die Geburtsstunde der ukrainischen Zivilgesellschaft, die Maidan-Revolution ihr Reifezeugnis.

STANDARD: Inwiefern hat die Maidan-Revolution die ukrainische Gesellschaft geprägt?

Prochasko: Sie ist mündiger geworden. Die Aufstände auf dem Maidan haben nicht als parteipolitische Revolution angefangen, Parteipolitiker wurden vehement abgelehnt. In der ukrainischen Gesellschaft hat sich dadurch ein Instinkt der Supervision entwickelt. Seither wird der Politik genau auf die Finger geschaut, ob die Interessen des Volkes auch entsprechend umgesetzt werden. Die Gesellschaft ist viel weiter als die staatlichen Führungsmächte selbst, was von Reife zeugt – einer der wenigen Gründe zum Optimismus. Als nächster Schritt wäre es wichtig, dass zu dieser "neuen" Gesellschaft ein neuer Staat entsteht, sonst wird die Diskrepanz im Land zu groß, und wir stehen wieder vor den gleichen Problemen wie 1848.

STANDARD: Europa tut sich schwer, die Krise zu verstehen. Woran liegt das?

Prochasko: Besonders an der Unlust, sich mit schwierigen Fragen auseinanderzusetzen. Die ukrainische Revolution hat auf drei Ebenen kritische Fragen aufgeworfen: auf sozialer Ebene, politisch-demokratischer sowie auf Ebene der Europäischen Union. Europa wurde damit der Spiegel vorgehalten. Es lässt sich etwa auch in Europa eine schleichende Oligarchie in Form von Neoliberalismus beobachten – natürlich äußerst subtil –, über die man allerdings nicht nachdenken möchte. Auch hat die Maidan-Revolution innerhalb weniger Monate ganz grundsätzliche Fragen der Demokratie aufgeworfen und die Alltagsdemokratie Westeuropas infrage gestellt. Die Europäische Union ist aufgefordert, sich Gedanken über das europäische Modell zu machen, reagiert allerdings mit Abwehrmechanismen.

STANDARD: Europa ist also nicht gewillt, die Ukraine-Krise zu verstehen?

Prochasko: Die Europäische Union möchte sich auf intellektueller Ebene aus der Affäre ziehen. Innerhalb der vergangenen Monate hat die Union einen Diskurs entwickelt, der mir selbstgeißelnd, pseudo-selbstkritisch und unproduktiv erscheint. Politiker oder Intellektuelle behaupten, die EU trage die Schuld an der Ukraine-Krise, weil die Ukraine zu stark dazu gedrängt wurde, sich entweder für Russland oder die Union zu entscheiden. Allerdings hat sich die Ukraine-Krise eben gerade wegen des mangelnden Interesses und Engagements seitens der EU verschärft. Dieser Diskurs ist ein billiger Weg, sich aus der Verantwortung zu ziehen.

STANDARD: Fühlt sich die ukrainische Bevölkerung von Europa im Stich gelassen?

Prochasko: Das ist sehr ambivalent. Die ukrainische Gesellschaft ist schon seit längerem ernüchtert, was das idealisierte Europa anbelangt. Sie ist sich bewusst, dass die Union eine komplexe Welt voller Widersprüche ist, die sich nicht mit der Ukraine vereinen möchte. Das Dilemma dabei ist, dass es kein anderes normatives Ideal gibt. Wir sind weder eine Großmacht noch eine Zivilisation, deshalb können wir es uns nicht leisten, einen "eigenen" Weg einzuschlagen. Entweder müssen wird die Putin’sche Union wählen – in die man uns ohnehin drängen möchte – oder die Europäische Union. Das Dilemma lässt sich mit einem Bild von Freud beschreiben: Der Zweck der Psychoanalyse sei es, die Person vom neurotischen Leiden zu befreien, damit sie die wirklichen Leiden wahrnehmen kann. Für die Ukraine käme die Partizipation an der Putin’schen Welt dem neurotischen Leiden gleich, mit der gemeineuropäischen Idee würde das wirkliche Leiden einhergehen.

STANDARD: Besteht die Tendenz, dass sich zwischen Europa und der Ukraine ein Diskurs des "Wir und die anderen" entwickelt?

Prochasko: Ja, diese Gefahr besteht leider. Die Idee, dass die Ukraine der Union beitreten könnte, würde auf Ablehnung und Unverständnis aufseiten der europäischen Bevölkerung stoßen. Die Politiker wissen das sehr wohl und handeln diesbezüglich zurückhaltend. Die ukrainische Gesellschaft könnte wiederum stärker die Rolle "der Unverstandenen" einnehmen. Damit diese Spaltung in "wir und sie" nicht entsteht, ist es wichtig, dass ein offener Dialog über die Möglichkeiten der Kooperation geführt wird. Voraussetzung für diesen Dialog ist die Bereitschaft Europas, sich mit der Ukraine und ihren Fragestellungen auseinanderzusetzen.

STANDARD: Wie würden Sie die Rollen der EU, Russland und der Ukraine aus psychoanalytischer Sicht beschreiben?

Prochasko: Dazu eignet sich das Stockholm-Syndrom. Russland würde ich in der Rolle eines Terroristen sehen, die Ukraine in der Rolle einer Geisel und die EU in der Funktion eines Vermittlers. Dem Terroristen muss in der Angelegenheit Handlungsspielraum gelassen werden. Der Vermittler ist gefordert, äußerst geschickt und diplomatisch zu handeln, allerdings sollte er sich bewusst sein, wer Täter und wer Opfer ist.

STANDARD: Ist sich der Vermittler in diesem Fall der Rollenverteilung nicht bewusst?

Prochasko: Der Vermittler, der vorausgeschickt wird, schon. Aber der Stab dahinter, den er konsultiert, ist in sich gespalten. Die Frage ist, wie lange dieser Stab die Zweiteilung aufrechterhalten kann. Die Sachlage zu hinterfragen ist natürlich wichtig, allerdings lassen sich Tatsachen wie jene, wer "Täter" und "Opfer" ist, nicht relativieren. Dies könnte zu Schlussfolgerungen führen, bei denen die Handlungen des Täters legitimiert werden. Das Wesen der Propaganda ist ja, dass Tatsachen mit Halbwissen und Halbwahrheiten vermischt werden und infolgedessen auch zu Relativierungen führen. Das ist meines Erachtens unzulässig. Genau so erzielt die Propaganda Putins Wirkung.

STANDARD: Welches Zeichen der Unterstützung seitens der EU wäre für die Ukraine gegenwärtig von Bedeutung?

Prochasko: Zunächst wäre eine Auseinandersetzung intellektueller und kultureller Art notwendig, indem versucht wird nachzuvollziehen, welche Fragestellungen die ukrainischen Ereignisse in Europa aufwerfen. Auf politischer Ebene wäre es wichtig, eine bedingungslose und aufrichtige Solidarität kundzutun. Nicht wünschenswert ist eine Unterstützung, die ohne Interesse für die politische Weiterentwicklung der Ukraine erfolgt. Die ukrainische Idee kann nur dann verstanden werden, wenn man das Land – ungeachtet der politischen Färbungen, die es geprägt haben – frei von den Großmächten betrachtet. So lässt sich auch das Verlangen nach Unabhängigkeit erklären. Die Zugehörigkeit zu einer Putin’schen Welt würde für uns die ganze ukrainische Idee zunichte machen. Das ist nicht miteinander vereinbar. (Tugba Ayaz, 18.5.2015)