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Cate Blanchett in "Carol".
Schon bei der Präsentation des Wettbewerbs hagelte es Kritik an der Auswahlpolitik in Cannes. Der Grund: Vor allem die Werke einiger ästhetisch herausfordernder Autoren wie Apichatpong Weerasethakul, Miguel Gomes und Arnaud Desplechin wurden in Parallelsektionen verschoben. Beurteilen lassen sich solche Entscheidungen freilich erst, wenn man mehr über die Qualität der 19 Filme in Konkurrenz sagen kann. Doch schon jetzt wird ersichtlich: Da wäre noch einiger Spiel- und Gestaltungsraum übrig gewesen.
Denn "The Sea of Trees", der neue Film von Gus van Sant, ist mit einem Karacho durchgefallen wie schon lange kein Film an der Croisette. Das hanebüchene Drama um einen Amerikaner (Matthew McConaughey), der in den japanischen Aokigahara-Wald aufbricht, um sich dort wie viele andere das Leben zu nehmen, hat die schlechteste Kritikerbewertung im Branchenmagazin Screen bekommen, an die ich mich erinnern kann. Man kann nur rätseln, was einen einmal so stilsicheren Regisseur wie Van Sant dazu bewogen hat, dieses mit esoterischen Plattitüden und lachhaften Wendungen angereicherte Drehbuch (Chris Sparling) zu verfilmen.
Stagnation auf hohem Niveau
Solche Abstürze von bedeutenden Regisseuren sind selten. Häufiger hingegen kommt der Fall vor, dass ein Filmemacher auf hohem Niveau stagniert, und man sich heimlich wünscht, er würde sich ein wenig mehr herausnehmen. So ein Fall ist etwa Todd Haynes’ "Carol", seine mit Spannung erwartete Adaption eines Patricia-Highsmith-Romans. Der US-Amerikaner hat mit dem Melodram "Far From Heaven" oder dem Bob-Dylan-Kaleidoskop "I’m Not There" demonstriert, wie souverän er sich auf die Ausgestaltung zurückliegender Epochen und Milieus versteht und ihnen neue, zeitgenössische Lesarten entlockt.
"Carol" ist im New York der 1950er-Jahre angesiedelt und erzählt, darin klassisches Gesellschaftsdrama, von rigiden Moralvorstellungen, die sich gegen von der Mehrheit abweichende Identitätskonzepte richten. Haynes verschiebt mit Highsmith den Akzent auf Gender-Politik: Die Verkäuferin Therese (Rooney Mara) und die um einige Jahre ältere, verheiratete Carol (Cate Blanchett) fühlen sich zueinander hingezogen, für ihre zurückhaltend, aber beständig wachsende Liebe ist jedoch kein Platz in dieser Welt. Zuerst treffen sie sich an öffentlichen Orten, Bars und Restaurants, wo zwei Frauen nicht weiter auffallen; aber schon in der Wohnung Carols werden die Räume enger: Ihr besitzergreifender Ehemann (Kyle Chander) bedrängt sie, auch damit, dass er ihr das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter entziehen will.
Makelloses visuelles Konzept
Haynes’ visuelle Konzeption des Films ist makellos. Die Kamera Ed Lachmans isoliert die Figuren nie aus der Umgebung. Die geschmackvollen Interieurs, deren Stoffe und Farben, unterstreichen die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, weil sie unverrückbar wie die Gesellschaftspolitik der Zeit erscheinen. Kurze, zärtliche Gesten, flüchtige Blicke erzählen hier von brennendem Verlangen, auch der wogende Score von Carol Burwell.
Dennoch bleiben die Affekte in "Carol" merkwürdig taub. Die Leidenschaft der beiden Frauen wirkt wie heruntergeschraubt, der Schmerz, das Leben nicht nach eigenen Vorlieben gestalten zu können, bleibt schallgedämpft. Es ist, als würde sich die äußere Form des Films wie eine schwere Decke über seine innere Dramatik legen. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 17.5.2015)