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Beim Anschlag auf den Boston-Marathon im April 2013 wurden drei Menschen getötet und 264 verletzt.

Foto: AP/Charles Krupa

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Der 21-jährige Attentäter Dschochar Zarnajew wurde nun zum Tode verurteilt.

Foto: Reuters/Jane Flavell Collins

Casey Sherman hatte es kommen sehen. "Nein, er tut sich keinen Gefallen damit", hatte er in einer Pause kommentiert, im Korridor vor dem Saal 9 des John-Joseph-Moakley-Gerichts, in dem gegen Dschochar Zarnajew verhandelt wurde. Während ein aufgewühlter Zeuge nach dem anderen Szenen eines kollektiven Traumas in Erinnerung rief, saß der Angeklagte neben seinen Anwälten, ohne auch nur eine Spur von Interesse, Bedauern, geschweige denn Reue erkennen zu lassen.

Den Kopf meist aufs Kinn gestützt, mit einem Pokerface, das keine Gefühlsregung verriet, erweckte er den Eindruck, als langweile ihn das alles nur. Sherman, der in dem Buch "Boston Strong" die Geschichten der Opfer erzählt, glaubte das Verhalten eines unbelehrbaren Rechthabers zu erkennen. Bei den Geschworenen, orakelte er, sammle Zarnajew gewiss keine Punkte, die Jury werde wohl für die Höchststrafe plädieren.

Todesurteil wirkt wie ein Schock

Und doch. Das Todesurteil gegen den 21-Jährigen wirkt wie ein Schock. Gerade in Boston, das sich seit jeher als tolerante Bildungsmetropole der Vereinigten Staaten versteht, als eine Art progressiver Leuchtturm für den Rest des Landes. Da ist der akademische Olymp namens Harvard, da sind die unverwüstlichen Kennedys mit ihrem Eintreten für die Schwachen, da sind die Rebellen, die im Zollstreit mit der britischen Kolonialmacht Teesäcke ins Hafenbecken warfen.

Seit 1947 wurde in Massachusetts niemand mehr hingerichtet, 1984 strich der Bundesstaat die Todesstrafe endgültig aus seinen Statuten. In diesem Fall konnte sie verhängt werden, weil der Bund das Verfahren führte. Als die Zeitung Boston Globe im April eine Umfrage in Auftrag gab, war nur knapp ein Sechstel der Bewohner dafür, in der Causa Zarnajew die Exekution zu erwägen, während es im US-Durchschnitt eine 60-Prozent-Mehrheit für angemessen hält, dem Täter Gift in die Venen zu spritzen. Boston, die Aufgeklärte.

Eltern eines Opfers gegen Todesstrafe

Auf den emotionalen Punkt brachten es Bill und Denise Richard, die Eltern des achtjährigen Martin, der noch an der Marathonstrecke starb, als ein mit Sprengstoff und Nägeln gefüllter Schnellkochtopf in die Luft ging. Es war die zweite Bombe nach der, die Dschochars älterer Bruder Tamerlan explodieren ließ. Der Jüngere hatte den Sprengsatz, getarnt in einem Rucksack, vor dem Restaurant "Forum" abgestellt und vier Minuten gewartet, bevor er ihn zündete.

Ihm muss klar gewesen sein, dass vor ihm Kinder standen, führte die Staatsanwaltschaft an. Im Gerichtsaal beschrieb Bill Richard, vor welcher Wahl er damals stand: Seinen Sohn habe niemand mehr retten können, also habe er sich nach verzweifelten Versuchen Jane zugewandt, seiner Tochter, der die Bombe ein Bein abgerissen hatte. Es wäre besser, würde der Angeklagte den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen, schrieben Bill und Denise Richard in einem offenen Brief.

Jahrelanges Berufungsverfahren nach Todesurteil

Denn ein Todesurteil ziehe ein jahrelanges Berufungsverfahren nach sich. "In dem Moment, in dem er aus unseren Zeitungen und von unseren Bildschirmen verschwindet, können wir anfangen, unser Leben und unsere Familie wiederaufzubauen."

Wenn selbst die Richards eine Hinrichtung für falsch halten, wieso halten die Geschworenen sie für richtig? Sieben Männer und sieben Frauen, ein Kreis, der schon deshalb nicht repräsentativ sein konnte, weil man die Todesstrafe bejahen musste, um in die engere Wahl zu kommen? Es sind Fragen, die grob skizzieren, in welche Gewissenskonflikte der Juryspruch die liberale Hochburg Neuenglands stürzt.

Philosophisch passe es eher zum Rachereflex des "Auge um Auge", statt sich an der Devise "Leben retten um jeden Preis" zu orientieren, dem Ethos der vielen Freiwilligen, die nach dem Anschlag spontan zu helfen versuchten, schreibt Kevin Cullen, der populärste Kolumnist Bostons.

"Zarnajew wäre sowieso zur Hölle gefahren"

Nicht alle sehen es freilich so. "Ich empfinde Gerechtigkeit für meine Familie", sagt Liz Norden, deren Söhne J.P. und Paul seit dem Attentat Prothesen brauchen, um laufen zu können.

Drastischer formuliert es Michael Ward, ein Feuerwehrmann, der als einer der Ersten zum Anschlagsort eilte, obwohl er nicht im Dienst war. "Zarnajew wäre sowieso zur Hölle gefahren, und so wird er noch früher ankommen." (Frank Herrmann aus Washington, 17.5.2015)