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Yusuf Yerkel in Aktion.

Foto: AP

Erinnert sich noch jemand an Yusuf Yerkel? Den Erdogan-Gehilfen, der sich bei einem Besuch in der westtürkischen Stadt Soma im vergangenen Jahr so schwer verletzte, dass er für sieben Tage krank geschrieben wurde? Ist auch nicht wichtig. Yusuf Yerkel musste mit solcher Wucht zutreten, als ob er einen Ball quer übers Feld in den Sechzehner zu befördern hätte, dass er sich einen schlimmen Bluterguss am rechten Bein holte, damals im Mai 2014. Das lag daran, dass am Boden kein rundes Leder rollte, sondern Erdal Kocabiyik, der Minenarbeiter, niedergerungen von zwei Gendarmen in Kampfuniform.

Erdal Kocabiyik ist jetzt zur Zahlung von 548 Lira verurteilt worden (derzeit 182,67 Euro), was nur recht und billig erscheint, denn der 31-jährige Arbeiter hat an jenem Tag zuerst zugetreten und zwar gegen ein Fahrzeug der hoheitlichen Kolonne des damaligen Premierministers heutigen Präsidenten. Und Dinge hat er gerufen, die den jungen Berater Yerkel, Erforscher der jüngeren türkischen Außenpolitik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS), allerdings nur für zwölf Monate, wie sich herausstellte, derart empörten, dass dieser nicht mehr an sich halten konnte.

Herr Kocabiyik hat natürlich unverschämtes Glück gehabt. Normalerweise wäre bei einem solch unziemlichen Verhalten – das weiß man aus Sindbad der Seefahrer (1947) und anderen Tausendundeine-Nacht-Produktionen aus Kalifornien – kein Pardon gegeben worden. Des Sultans Berater hätte den aufmüpfigen Untertan im Vorbeigehen mit einem Säbelhieb niedergestreckt, so schnell hätte Erdal Kocabiyik gar nicht schauen können.

Tempora mutantur. Die Würde jedes türkischen Staatsbürgers werde verteidigt, versprach Regierungs- und Parteichef Ahmet Davutoglu unter Punkt elf des "Neue Türkei Vertrag 2023", den er bei der Vorstellung des Wahlprogramms der konservativ-religiösen AKP Mitte April gleich mit verlas. Das betrifft dann auch irgendwie die Menschen in Soma und die Hinterbliebenen der 301 Bergarbeiter, die dort am 13. Mai 2014 beim schwersten Minenunglück in der Geschichte der Türkei umgekommen waren. Ein Gericht versucht seit dem Vormonat zu untersuchen, inwieweit hier das Schicksal zugeschlagen hat, wie es seinerzeit Premierminister jetzt Präsident Tayyip Erdogan beim Besuch in Soma der Bevölkerung eröffnet hatte, oder nicht auch Profitgier und tödliche Fahrlässigkeit des Minenunternehmens im Verein mit schludriger staatlicher Arbeitsplatzinspektion.

Der türkische Staatspräsident ist dabei keineswegs ein Mann aus Stein und Eis. Jetzt erst wieder hat er geweint, dieses Mal sogar gemeinsam mit Ehefrau Emine beim Vortrag eines Gedichts durch eine Studentin während eines Besuchs in Albanien. 2014, knapp vor den Kommunawahlen, kamen die Tränen während eines Fernsehinterviews (Brief der Tochter eines ägyptischen Muslimbruders an ihren Vater. Sie starb später bei der Niederschlagung von Protesten in Kairo.). 2011, vor den vergangenen Parlamentswahlen, verlor Erdogan im Parlamentsplenum die Fassung (Verlesen eines Zeitungsausschnitts). Das war am selben Ort schon 2007 der Fall (vor Parlamentswahlen, Hören der Nationalhymne), wohingegen ihn ein Volkslied 2004 (vor Kommunalwahlen) im Fernsehen zu Tränen rührte und einmal mehr ein Gedicht im Jahr 2009 (vor Kommunalwahlen). Besorgte Bürger hatten im Vormonat in den sozialen Internetmedien eine Tabelle mit Erdogan-Tränenausbrüchen zirkulieren lassen und die Frage gestellt, ob und wann auch 2015 geweint würde. Schließlich rücken die Parlamentswahlen am 7. Juni näher, und auch der türkische Wähler ist ein empfindsamer Mensch, wenn es ums Treten und Getreten werden geht. (Markus Bernath, 17.5.2015)