Verblüffende Momente der unmittelbaren Berührtheit und "Choreografien" der Mimik: Mats Staubs Installation im Künstlerhaus.


Foto: Festwochen

Wien - Wer weiß noch, was sie oder er im 21. Lebensjahr erlebt, getan und empfunden hat? Und vor allem: Wer weiß, was anderen am gleichen Punkt in ihren Biografien widerfahren ist? Den Schweizer Künstler Mats Staub (43) hat das interessiert. Das Resultat dieses Interesses ist die Installation 21 - Erinnerungen an das Erwachsenwerden, mit der die Wiener Festwochen am Samstag im Künstlerhaus-Festivalzentrum ihr Programm begonnen haben.

Nach dem Eröffnungsevent mit den Philharmonikern unter Zubin Mehta vergangenen Donnerstag vor dem Schloss Schönbrunn, das rund 100.000 Zuschauer anlockte, wirkt dieser Auftakt unspektakulär. Doch das täuscht. Der Gehalt von Staubs Installation liegt zwar auf einer anderen Ebene als der des Sommernachtskonzerts. Da allerdings bewirkt er ein großes Ereignis - denn es geht potenziell um alle, die in Schönbrunn das Publikum gewesen sein könnten. Um jene also, die keine Stars sind. Es geht um andere Größen, nämlich die in den Leben von sogenannten "kleinen" Leuten.

Diese werden auf breiter Basis auch von Fernseh- und Internetformaten erfasst. Was eher selten mit Samthandschuhen erfolgt, weil diese Medien meist programmdramaturgischen Logiken des Aufblähens und der Verlockung folgen. Im Gegenteil. In diesen Formaten wird die Mehrheit nach allen Regeln von Voyeurismus und Narzissmus ausgeschlachtet. Auf diesen Zynismus kann Mats Staub locker verzichten, wenn er seine Interviewpartner in einer umfangreichen Auswahl aus mehr als hundert bisher geführten Gesprächen präsentiert.

Was hätte ich erzählt?

Auf zwölf hochformatigen Bildschirmen sind Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern, Lebenszusammenhängen und aus jedem Lebensabschnitt ab 22 bis ins hohe Alter zu sehen. Aber nicht beim Erzählen ihrer Geschichten, sondern beim Zuhören: Staubs Kamera hat aufgezeichnet, wie diese Personen der eigenen Erzählung drei Monate nach den mit ihnen geführten Interviews lauschen.

Die Zuschauer vor den Monitoren erfahren die Geschichten und werden gleichzeitig zu Zeugen von "Choreografien" der Mimik. Also den unwillkürlichen Bewegungen in den Gesichtern derer, die schweigend ihren eigenen Worten folgen.

Das Ergebnis ist verblüffend, weil Momente der unmittelbaren Berührtheit, der Belustigung über die eigene Wortwahl, der Nachdenklichkeit oder aber auch der Traurigkeit sichtbar werden. Während etwa die Stimme einer jungen Frau konzentriert und sachlich Erlebnisse vom Bombardement Belgrads wiedergibt, treten dieser Frau, während sie vor der Kamera ihrem eigenen Bericht zuhört, Tränen in die Augen.

Die Längen der einzelnen Videos variieren individuell. Der Interviewer tritt ganz in den Hintergrund, aber die Antworten verweisen auf ein gleichbleibendes Fragenmuster: Was ist im 21. Jahr gewesen, wie war es mit persönlichen Beziehungen, was bedeutete das Erwachsenwerden.

Die Dramaturgien ihrer Erlebnisse gestalten die Zuschauer jeweils selbst - und sie erfahren dabei einiges über sich. Darüber, mit welcher Person sie sich identifizieren, wem sie mehr oder weniger gern zuhören - und wie sich erste Eindrücke als Täuschungen erweisen können. Man kann den Platz wechseln, zappen, Pausen einlegen. Und in Gesellschaft mit den anderen im Publikum stellt sich die Frage: Was hätte mein Sitznachbar erzählt, wenn er Teil dieses Archivs geworden wäre?

Mats Staub, der bereits zweimal bei den Festwochen zu Gast war, erarbeitet mit seinen zahlreichen Projekten eine künstlerische Anthropologie, die so von der Wissenschaft nicht geleistet werden kann. Wiederholte Besuche dieser fabelhaften Arbeit lohnen sich. Garantiert. (Helmut Ploebst, 18.5.2015)