Bild nicht mehr verfügbar.

Wahlveranstaltung der AKP in Istanbul.

Foto: AP

Bild nicht mehr verfügbar.

Unterstützer der Kurden- und Linkspartei HDP.

Foto: APA/EPA/Tosun

Nach dem Debakel der Meinungsforscher bei der Wahl zur israelischen Knesset und zum britischen Unterhaus wird man die Voraussagen der türkischen Demoskopen zum Ausgang der Parlamentswahl am 7. Juni erst recht mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen. Das Problem der Forschungsinstitute ist mittlerweile überall dasselbe: Telefonumfragen, die auf der Basis von Festnetznummern durchgeführt werden, erreichen keinen repräsentativen Ausschnitt der Bevölkerung mehr. Anklickumfragen auf Webseiten sind unzuverlässig. Eine Gewähr dafür, dass Befragte auf der Straße oder am Mobiltelefon tatsächlich ihren Vorzug für eine Partei kundtun und nicht das eine sagen und am Wahltag anderes wählen oder sich spontan anders entscheiden, gibt es natürlich nicht.

Kurden- und Linkspartei als große Unbekannte

Die Bandbreite der möglichen Stimmen für die seit November 2002 regierende konservativ-islamische AKP von Staatspräsident Tayyip Erdogan (er musste seine Parteimitgliedschaft ruhend stellen) und Premier Ahmet Davutoglu ist wie schon bei Prognosen früherer Wahlen extrem groß: Alle Umfrageinstitute sagten in den vergangenen sechs Wochen zwischen 36 und 48 Prozent voraus. Bei der größten Oppositionspartei, den Sozialdemokraten der CHP, scheint das Bild sehr viel klarer und möglicherweise weniger von politischen Einflussnahmen geprägt: Die Republikanische Volkspartei von Kemal Kiliçdaroglu kann demnach mit knapp 24 bis 28 Prozent der Stimmen rechnen.

Die Rechtsnationalisten der MHP haben sich in den vergangenen Wochen in den Umfragen bei 15 bis 18 Prozent eingependelt. Die große Unbekannte dieser Wahl aber ist die Zahl für die Kurden- und Linkspartei HDP, die erstmals bei Parlamentswahlen antritt und deren Politiker nicht wie früher als "Unabhängige" kandidieren, was ihnen die Zehnprozenthürde zum Einzug ins Parlament ersparte, aber Nachteile bei der Mandatsvergabe brachte. Den Wahlumfragen zufolge liegt die Demokratische Partei der Völker einmal unter, dann wieder über der Hürde von zehn Prozent. Die Angaben schwanken zwischen acht und zwölf Prozent.

Bisher keine Abstrafung der AKP

Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt, dass sich die Wunschprognosen der Erdogan-Gegner regelmäßig als falsch erweisen. Die AKP gewinnt mit großem Abstand, den vorausgesagten Einbruch, die Abstrafung durch enttäuschte türkische Wähler hat es mit Ausnahme der Kommunalwahl im Jahr 2009 nicht gegeben. Auch die erste direkte Präsidentenwahl im August 2014 entschied Erdogan trotz aller Skandale, Affären und spaltender Rhetorik schon in der ersten Runde für sich; sicherlich weniger übermächtig als von seinen Parteigängern angekündigt, aber mit 52 Prozent gegen zwei Mitbewerber doch deutlich genug.

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wird nach allgemeiner Erwartung auch dieses Mal stärkste Partei im Parlament, während die CHP wohl stagniert oder unter ihr Ergebnis von 25,98 Prozent vor vier Jahren fällt. CHP-Wähler könnten der HDP zu Hilfe kommen und zum Teil zur MHP abwandern, die sich strikt gegen Friedensverhandlungen mit der kurdischen Untergrundarmee PKK stellt. Dieser von der Regierung initiierte "Lösungsprozess" ist nun ohnehin zum Erliegen gekommen: Erdogan hat erkannt, dass sich Verhandlungen über eine Lösung der Kurdenfrage für ihn nicht in Stimmen auszahlen. Eine innenpolitisch friedlichere Atmosphäre ermuntert mehr Wähler, für die HDP zu stimmen; die Aussicht auf eine Beilegung des Konflikts mit den Kurden treibt andererseits mehr nationalistische türkische Wähler von der AKP zur MHP. Devlet Bahçelis Partei, die 2011 noch 13,01 Prozent bekam, gilt – wenigstens den Prognosen und Kommentatoren zufolge – jetzt schon als einer der Gewinner der kommenden Wahl.

276 Sitze für weitere Alleinregierung

Für die AKP und Staatschef Erdogan aber geht es um die Sitze der Regierungspartei im nächsten Parlament. 550 Mandate werden in einem gemischten Mehrheits- und Verhältniswahlrecht vergeben, wenigstens 276 – die absolute Mehrheit – braucht die AKP, um wie bisher allein zu regieren. Für eine Verfassungsänderung durch das Parlament, die Einführung eines Präsidialsystems für Erdogan und ohne Premier, müsste die AKP mindestens eine Dreifünftelmehrheit oder 330 Sitze bekommen. Mit einer Zweidrittelmehrheit von 367 der 550 Abgeordneten könnte die AKP allein im Parlament die Verfassung ändern. Ein solches Wahlergebnis erscheint aber unrealistisch. Hält sie weniger als die zwei Drittel, aber mindestens die drei Fünftel – 330 Sitze –, könnte die AKP-Fraktion eine neue Verfassung schreiben, die dann laut Artikel 175 der jetzigen Verfassung dem Volk in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt würde.

Doch selbst die 330 sind nicht so sicher. Bei ihrem dritten großen Sieg in Folge bei Parlamentswahlen verfehlte die AKP im Sommer 2011 trotz 49,83 Prozent diese Marke knapp: Sie kam auf 327 Mandate. Alles hängt dieses Mal wohl vom Einzug der HDP ab. Scheitert sie an der Zehnprozenthürde, kann die AKP Mandate dazugewinnen und vielleicht auf 338 Sitze kommen; gelingt der HDP aber der Einzug, fällt Erdogans Partei sogar unter die Marke von 300 Sitzen. Zur Alleinregierung wird es dann weiter reichen, doch Erdogan würde ein Lame-Duck-Präsident werden – ein Staatschef mit autoritärem Machtanspruch, aber ohne politisches und legales Rüstzeug. Mehrere türkische Medien haben mittlerweile einen interaktiven Wahlsimulator auf ihren Webseiten in Umlauf gebracht, mit dem der Leser die Arithmetik der Stimm- und Sitzverteilung bei der Parlamentswahl nachstellen kann. (Markus Bernath, 19.5.2015)