Wien – Einer waschechten Demokratin im Bundesstaat New York fällt beim Namen Sarah Palin (Republikanerin und ehemals Gouverneurin von Alaska) natürlich der Kürbiskuchen aus der Hand. Auch ein gellender Schrei entfährt ihr, und das ist nur allzu verständlich. Hat doch schon Opa die Familie zeitlebens auf die demokratische Partei und deren Werte eingeschworen. Und jetzt will Bruder Richard ausgerechnet für eine Kanzlei im republikanischen Umfeld arbeiten.
In Richard Nelsons zu Herzen gehender Theaterserie The Apple Family Plays, die derzeit bei den Wiener Festwochen im Museumsquartier gastiert, ist dieser politische Disput am Familienesstisch der sichtbarste Riss, der – bei aller Liebe! – durch die Familie geht. In Rhinebeck, einem pittoresken Städtchen im Bundesstaat New York, kommen die drei Apple-Geschwister am 2. November 2010, dem Abend der Kongresswahlen, zusammen, um dem dementen Onkel Benjamin einen Hund als Gefährten zu überbringen und um Tim, den neuen Freund von Jane, kennenzulernen.
Antitheatralik mit Bohnensalat
Dramatiker Richard Nelson führt in seiner vierteiligen, ab 2010 am Public Theater in New York erarbeiteten Theaterserie die Weltgeschichte mit dem Privatleben einer gehobenen Mittelschichtfamilie zusammen. Bei dampfenden Kartoffeln und Bohnensalat markieren die sechs Familienmitglieder das Eingesponnensein in konkrete gesellschaftspolitische Lebenssituationen und analysieren sich zugleich gegenseitig - wie man es in Familien gerne einmal tut. Dieser scheinbar leichthändige, in Wahrheit aber ausgeklügelte erzählerische Vertikalschnitt verbindet Barack Obama mit Onkel Benjamins Heimaufenthalt, das Wahlkampf-Campaigning mit einem vom Stinktier kontaminierten Hund im Garten.
Je näher man dabei rund um die zwei Tische der Familie Apple in der Halle G zu sitzen kommt, desto besser: Die Qualität des Abends offenbart sich in den Details, in den filigran gesetzten Blicken und Gesten, dem Schweigen und in der greifbaren Stofflichkeit des Interieurs. Nelson schätzt das Theater als jene Kunstform, die "das gesamte lebende menschliche Wesen als Ausdrucksform benutzt"; dem trägt er auch als Regisseur Rechnung: The Apple Family Plays offenbaren "totale Menschen". Alsbald schon erscheinen sie als "echte" Verwandte, ihre Sprache ist provokant alltäglich, manchmal allzu nuschelig und verschleppt, fast wie daheim. In dieser Antitheatralik, im performativen Minimalismus liegen die Geheimnisse der Arbeit verborgen.
Teil eins, That Hopey Changey Thing, spielt am Abend der Halbzeitwahlen 2010, bei der die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren werden. Davon weiß die Apple-Familie noch nichts. Sie konstatiert nur mit Bangen, "wie viele alte Leute", die womöglich dem Slogan "Yes we can!" schon von Anfang an zu wenig Vertrauen schenkten, zu den Wahlurnen schreiten.
Teilhabe an Zeitgeschichte
Die Teile zwei, drei und vier, derzeit abends einzeln und am Samstag dann als gesamte Tetralogie (ab 13 Uhr) zu sehen, befassen sich mit weiteren einschneidenden geschichtlichen Ereignissen, von denen die liberale Familie betroffen ist: dem zehnten Jahrestag von 9/11, der Präsidentschaftswahl 2012 und dem 50. Jahrestag des Attentats auf Präsident John F. Kennedy.
Das Apple'sche Familienessen hat aber auch eine Lupenfunktion. Es verdeutlicht die Funktionsweisen scheinbar privater, in realiter aber sehr wohl gesellschaftlich gesteuerter und kontrollierter Verhaltensweisen: Entkommt der Hund durch ein Loch im Zaun, rennen die Männer händeringend zur Rückholaktion hinaus. Kackt das Tier aber nach seinem Auslauf die Küche voll, verfallen die Damen ins Putzen. Lustig. (Margarete Affenzeller, 20.5.2015)