Die University of Michigan in Ann Arbor stattete Ernst Soudek 1960 mit einem Stipendium aus. Er hatte sich in einen Greyhound-Bus gesetzt und war bei einem Meeting aufgetaucht, bei dem er den Diskuswurf gewann. Der berühmte Coach Don Canham sagte zu ihm: "You'll hear from me, Ernie."

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Mitte der 80er ist Ernst Soudek nach Wien zurückgekehrt.

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Wien - Mit Ernst kommt man rasch ins Reden, und man ist sofort per Du, das werden Conchita Wurst, Marianne Mendt und Hanno Settele gerne bestätigen. Es war kurz vor Frau Wursts großem Erfolg in Kopenhagen, sie alle saßen bei Barbara Stöckl, und Ernst Soudek dekretierte quasi die unförmliche Ansprache. "Ich war ja der Älteste." Hinzu kommt, dass Ernst als Sportler das Du ziemlich naheliegt, außerdem ist er Anglist - so what? Soudek war als Shakespeare-Experte zum 450. Geburtstag des Dichters geladen, Soudek-Experte ist er sowieso. Auch seine Storys würden Bände füllen, mehr als jene zwei Bücher, die er bis dato drucken ließ.

Der Wiener Soudek ist Jahrgang 1940, und er ist "ein Wrack". Sagt er zumindest. Seit fast zehn Jahren hat er zwei künstliche Knie, die funktionieren "eh super", vor zwei Jahren wurde er zweimal an den Bandscheiben operiert, und er hofft, dass es bei diesen zwei Operationen bleibt. "Man sollte nicht zu lang Leistungssport betreiben, nicht über den 30. Geburtstag hinaus", sagt er. "Ich war mit 55 noch Leistungssportler." Seinen größten Erfolg feierte Soudek mit 45, als er 1985 in Rom den Senioren-WM-Titel im Diskuswurf gewann, ein Jahr nach einem EM-Erfolg in Brighton.

Die Nerven

In der allgemeinen Klasse hatte der fast zwei Meter große Hüne einige Meistertitel gesammelt und an den Olympischen Spielen 1964 in Tokio teilgenommen, er war nicht nur eine Zeitlang Österreichs bester Diskuswerfer, sondern auch ein respektabler Kugelstoßer, Hammer- und Speerwerfer. "In Tokio", sagt Soudek, "hätte ich unter die ersten fünf oder sechs kommen sollen." Doch die Nerven spielten nicht mit. "Als ich in den Wurfkreis gestiegen bin und die vielen tausend Zuschauer wahrgenommen habe, haben meine Knie nicht gezittert, sondern geschlottert."

Bemerkenswerter als all seine Würfe waren freilich zwei Sprünge, die Soudek gelungen sind. Der Sprung nach Amerika, und - fast 25 Jahre später - der Sprung wieder zurück. 1960 setzte sich Soudek in ein Flugzeug, in der Hand ein Ticket nach Detroit, One-Way. "Ich dachte, dass ich es drüben weiter bringen würde als in Österreich." Im Detroiter Vorort Hazel Park, nördlich der Eight Mile Road, lebte ein Onkel namens Egon, der Ernst die Rutsche legen sollte. Doch Detroit war ein hartes Pflaster, und nördlich der Eight Mile Road war das Pflaster besonders hart. Als Onkel Egon seine Tochter und den Neffen in, wie der Neffe sagt, "harmloser Umarmung" antraf, warf er den Neffen aus dem Haus. Ernst landete in einer Absteige in einem der übelsten Viertel von Detroit. "Das erste Jahr war die Hölle!"

"A big, strong guy like you?"

Er schlug sich als Hilfsarbeiter und mit Gelegenheitsjobs durch. Im Fastfoodlokal auf der anderen Straßenseite sprach ihn ein kleiner Italoamerikaner an: "Ernie, how much money are you making right now?" Ernie gab zurück: "1,25 dollar an hour." Der Italoamerikaner lachte: "A big, strong guy like you?" Und er bot 50 Dollar für einen Tag Arbeit pro Woche. Soudek griff zu. "Ein dunkles Kapitel meines Lebens." Einige Monate lang hat er Geld eingetrieben. Gewalt musste er nie anwenden, seine Erscheinung war wohl angsteinflößend genug. Joe Zerilli, so hieß der Italoamerikaner, war ein Capo des berüchtigten Zerilli-Clans - "und der beste Boss, den ich je hatte".

In Wien hatte Ernst ob seiner Körpergröße zunächst Basketball gespielt, da war er einem Leichtathletiktrainer aufgefallen und quasi ins Schleudern gekommen. Als 14-Jähriger hatte er Schuhgröße 49. "Ich war für Österreich zu groß." Für Schuhe in Größe 49 sei fast ein Monatsgehalt seines Vaters draufgegangen, der schrieb Gerichtsgeschichten für die Volksstimme. Als Hammerwerfer hatte Ernst seine ersten Erfolge gefeiert, 1959 war er Österreichs zweitbester Junior hinter dem legendären Heinrich Thun. Ein Jahr später und in Detroit bekam er Wind von einem Leichtathletikmeeting an der University of Michigan in Ann Arbor. Er setzte sich in einen Greyhound-Bus und fuhr zum Ferry Field, wo Jesse Owens 1935 an einem einzigen Tag fünf Weltrekorde fixiert hatte.

Ein günstiger Wind

Soudek fixierte, da Hammer- und Speerwerfen im Mittelwesten nach etlichen Unfällen verboten worden waren, einen Sieg im Diskuswerfen. "Der Wind war für mich als Linkshänder günstig." Don Canham, berühmter Coach der Michigan-Uni, versprach ihm: "You'll hear from me, Ernie." Nach drei Monaten klingelte bei Ernie das Telefon, und er übersiedelte "als erster österreichischer Athlet in Amerika mit Stipendium" nach Ann Arbor. Der Rest ist Geschichte, besser gesagt, der Rest sind viele Geschichten.

Auf einer After-Concert-Party im August 1963 hat er mit Joan Baez getanzt, es gibt ein Foto davon. Er hat ihr gratuliert, sie hat ihn auf seinen Akzent angesprochen. "Dann sind wir halt ins Reden gekommen", und ins Tanzen. Nichtsdestotrotz sagt Ernst Soudek: "Am meisten stolz bin ich auf meine akademische Karriere." Er wurde Anglist und Teaching Fellow (quasi Uni-Assistent), promovierte 1969 zum "Doctor of Philosophy" in Englisch und Vergleichender Literaturwissenschaft, lehrte 16 Jahre lang an der Rice University in Houston, Texas, die als "Harvard of the South" gilt, und an der University of Virginia in Charlottesville.

Ein jähes Ende

Weniger stolz ist Ernst auf das jähe Ende seiner ersten Ehe, das er sich, ohne ins Detail gehen zu wollen, "selbst zuzuschreiben" hatte. Ingrid und er waren einander im zweiten Studienjahr begegnet, zwei Jahre später wurde geheiratet, in Wien, vor Olympia 1964. Die Ehe hielt zwanzig Jahre lang, ihr entsprangen Tochter Natasha, heute 43 und Schauspielerin in Los Angeles, und Sohn Nikolai, heute 37 und IT-Experte in New York. Ernst übersiedelte nach der Scheidung zurück nach Wien, er dachte, man würde ihn, den Herrn Professor, mit offenen Armen empfangen. Aber er musste die Lehramtsprüfung nachmachen und bekam erst, nachdem Bürgermeister Helmut Zilk für ihn eingetreten war, den Job am TGM, den er bis zu seiner Pensionierung innehatte. Soudek half auch mit, die FH Technikum Wien aufzubauen - zunächst war er einer von sieben Professoren für 37 Studierende, am Ende einer von 350 Professoren für 3500 Studierende.

Ein blöder Schmäh

In zweiter Ehe ist Soudek mit Martina verheiratet, im Februar 2016 feiern sie silberne Hochzeit. Kennengelernt haben sie sich in einem chinesischen Restaurant in der Singerstraße, Ernst hat "mit einem blöden Schmäh angebandelt", Martina war nachsichtig. Sie ist Prokuristin bei der Raiffeisen Bank International AG, er als Pensionist schaut auf ihre drei Katzen, und er schaut auf sich. Radfahren auf der Donauinsel ist mit den künstlichen Knien "g'scheiter als laufen", in seiner Wohnung im ersten Bezirk übt er sich regelmäßig im Bankdrücken. Und er schreibt. Der erste Band seiner "true stories" heißt One-way Ticket to Detroit und erschien im Falter-Verlag, einen zweiten Band (Schüsse am Turner Mountain) ließ Soudek in geringer Auflage ("nur für Freunde") selbst drucken. Aktuell hofft er, dass ein US-Verlag seine Geschichten herausbringt.

Gemeinsam gehen Martina und Ernst gerne zum Heurigen in Hagenbrunn - und auf Reisen. Beim letzten Wochenende in Paris hatten sie im Restaurant von Gérard Depardieu reserviert, sie waren die ersten Gäste, und wer saß einsam im Hof? Depardieu. Soudek sprach ihn an, und schon haben sie sich - "über Filme und über Weine" - eine Stunde lang unterhalten. "Wir sind halt", sagt Ernst, "ins Reden gekommen." (Fritz Neumann, 26.5.2015)