Bild nicht mehr verfügbar.

Ein molekulares Knäuel, das hochkomplex aufgebaut ist, aber so einfach und überzeugend in seiner Wirkung ist: CRISPR/Cas9, ein mögliches Wundermittel gegen Erbkrankheiten.

Illu.: Science Photo Library / picturedesk.com / Molekuul

Die nächste Nobelpreisträgerin? Emmanuelle Charpentier.

Foto: Humboldt-Stiftung / Sven Müller

STANDARD: Wann begannen Sie mit der Arbeiten am molekularen System CRISPR/Cas9? Waren Sie damals noch an den Max F. Perutz Laboratories am Biocenter in Wien?

Charpentier: Ich war eigentlich schon am Weg nach Schweden, als ich mit diesen Arbeiten begann. An den Max F. Perutz Labs hatten wir versucht, den genauen Ablauf von Krankheiten zu verstehen, die durch Bakterien entstehen. Wir fragten uns zum Beispiel: Unter welchen Bedingungen sind Streptokokken für Menschen gefährlich? Später hatte ich die Idee, zwei Systeme zu verknüpfen: Cas9 - das war schon bekannt - und ein RNA-Molekül, das zusammen mit einer weiteren RNA - tracrRNA - an CRISPR/Cas9 andockt. Genau diese Kombination ist in der Lage, genetische Veränderungen vorzunehmen. Das war eine Entdeckung, mit der wenige gerechnet hatten.

STANDARD: Umso mehr schwärmen Biowissenschafter heute von diesem Werkzeug. Damit werde nicht nur die Arbeit im Labor deutlich erleichtert. Man erhofft sich auch, Gendefekte und die daraus entstehenden Krankheiten zu heilen. Teilen Sie diese Erwartungen?

Charpentier: Es ist gewiss ein Werkzeug, um die Arbeit im Labor zu vereinfachen. Wissenschafter können viel schneller, effizienter und billiger arbeiten als vorher. Transgene Mäuse können binnen weniger Wochen hergestellt werden, früher dauerte das viel länger. Ich glaube auch, dass CRISPR/Cas9 ein hohes Potenzial in der medizinischen Forschung und Anwendung hat. Es ist nur die Frage, was genau man sich wann erwartet: einen indirekten Einfluss auf die Behandlung von Krankheiten oder einen direkten?

STANDARD: Was ist Ihre Antwort aus heutiger Sicht?

Charpentier: CRISPR/Cas9 kann sicher bereits heute helfen, unterschiedliche Fragen bei der Entstehung von genetisch bedingten Krankheiten zu beantworten und gibt der Biotech-Industrie sicher Möglichkeiten, neue Medikamente zu entwickeln. Man kann damit zum Beispiel Genmutationen, die zu Krankheiten führen, reproduzieren - im Tiermodell, in Pflanzen oder in Organoiden wie jenem Minihirn, das am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) entwickelt wurde. Es gibt aber auch Wissenschafter, klinische Forscher und Biotechnologiefirmen, die CRISPR/Cas9 als Wunderwaffe direkt im menschlichen Körper anwenden wollen, schwere Krankheiten zu heilen. Dieser Anwendungsbereich ist sicherlich deutlich komplexer. Aber ich erwarte in den nächsten drei bis vier Jahren erste klinische Programme, die auf der CRISPR/Cas9 Technologie basieren.

STANDARD: Es gibt Wissenschafter wie George Church von der Harvard University, die mit CRIPR/Cas9 die Keimbahn, also die Entwicklung von Eizellen und Spermien beeinflussen wollen. Wie denken Sie darüber?

Charpentier: Sie haben sicher auch von den Versuchen chinesischer Wissenschafter gehört, die Manipulationen an lebenden menschlichen Embryo durchführten - mit der Rechtfertigung, dass diese Embryonen nicht lebensfähig gewesen wären. Ich bin strikt gegen derartige Eingriffe. In Europa werden wir zum Glück durch Gesetze vor solchen Experimenten geschützt. Ich kann dazu eigentlich nur ganz deutlich "Nein" sagen.

STANDARD: Können Sie verhindern, dass derartige Versuche stattfinden? Wie schützen Sie denn Ihr geistiges Eigentum?

Charpentier: Es macht mich ja glücklich, dass die Wissenschafter dieses Werkzeug so angenommen haben. Die Technologie ist jetzt bekannt, wir haben darüber publiziert, also steht es der Scientific Community frei, damit zu arbeiten. Das ist so in der Wissenschaft. Man muss aber darauf achten, was genau damit passiert - und das Patent schützen. Die Verwertungsrechte müssen in den Händen der Wissenschafter bleiben, die CRISPR/Cas9 entwickelt haben. Ich kenne meine Rechte, ich weiß, was geistiges Eigentum ist - und um das zu schützen, habe ich zwei Unternehmen gegründet.

STANDARD: Welche Unternehmen sind das?

Charpentier: CRISPR-Therapeutics ist ein biopharmazeutisches Unternehmen in Cambridge, Massachusetts, mit dem wir Medikamente auf Basis der Technologie entwickeln. Mit ERS Genomics lizenzieren wir die Technologie für ein breites Anwendungsgebiet außerhalb medizinischer Anwendungen.

STANDARD: Viele Ihrer Kollegen sehen in Ihnen und in Jennifer Doudna, die etwa gleichzeitig mit CRISPR/Cas9 zu arbeiten begann, die nächsten Medizinnobelpreisträgerinnen. Wie fühlt sich das an?

Charpentier: An diesen Spekulationen möchte ich mich nicht beteiligen. Es gibt viele Wissenschafter, die diesen Preis verdienen. Das ist die eine Antwort, die ich geben möchte. Die andere: Diese Aussagen sind eine große Ehre. Sie zeigen, dass die Bedeutung der Technologie erkannt wurde, dass man sieht, wie rasch die Schritte von reiner Grundlagenforschung zu Anwendungen erfolgten.

STANDARD: In Österreich bedauert man auch deshalb, dass Sie aus Wien weggegangen sind. Man sagt, es sei ein großer Fehler gewesen, Sie gehen zu lassen. Warum haben sie eigentlich die Max F. Perutz Labs 2006 in Richtung Umeå in Schweden verlassen?

Charpentier: Das Vienna Biocenter ist ein wirklich großartiger Platz für die Wissenschaft, speziell für Forschung an der RNA - vielleicht nicht so sehr für Forschung an Bakterien. In Umeå gibt es genau das: eine kritische Masse an Wissenschaftern, die in diesem Bereich arbeiten. Abgesehen davon waren meine Zukunftsperspektiven nicht ganz klar. Man konnte mir nicht sagen, wie es mit mir weitergehen könnte. Und dann kam dazu, dass ich eher eine mobile, gesamteuropäisch denkende Wissenschafterin bin. Das ist mein Charakter. (Peter Illetschko, 27.5.2015)