In der Zeit von Universalgelehrten wie Leonardo da Vinci war Medizin ein Handwerk. Man konnte Patienten alleine versorgen, doch der Heilungserfolg war oft nicht sehr groß.

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Heute ist Medizin komplex. Was sie vom Boxenstopp in der Formel 1 lernen kann: In Teams ist der Einzelne Teil eines effizienten Systems – zum Wohle des Patienten.

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Die Medizin ist in der Krise. Das hat mit den Kosten zu tun. Wenn ich als Arzt das Neueste und Beste für den Patienten will, denke ich nicht daran, was es dem Gesundheitswesen bedeutet. Das ist ein Dilemma. Denn wenn die Kosten steigen, dann muss die Frage, was man sich leisten will und kann, auf politischer Ebene geklärt werden.

Warum das so ist, ist einfach erklärt. Der Fortschritt macht Medizin erfolgreicher, Behandlungen differenzierter und die Kosten teurer. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem sich ein Rückblick lohnt. Zum Beispiel in die Zeit, bevor es Penicillin gab. Da war Medizin noch billig, aber nicht sehr effektiv. Wenn jemand in einem Krankenhaus war, gab es wenig Fachkompetenz. Sauberkeit, Pflege, Wärme, etwas Nahrung, Obdach und vielleicht die Fürsorge einer Pflegeperson, das war's. Ärzte brachten kaum einen zusätzlichen Vorteil. Es sei denn, ein Patient litt an einer der wenigen bekannten Krankheiten, für die es Behandlung gab. Zum Beispiel an Lobärpneumonie, da gab es ein Antiserum, bestehend aus einer Injektion von Kaninchen-Antikörpern, die gegen die Streptokokken wirkten. Bei Herzinsuffizienz öffnete man die Armvene, ließ einen halben Liter Blut ab, verabreichte eine rohe Blattmixtur von Digitalis und führte anschließend Sauerstoff in einem Zelt zu. Oder Lähmungserscheinungen: Wenn ein Arzt geschickt sehr persönliche Fragen stellen konnte, vermutete er Syphilis als Ursache und verabreichte Quecksilber und Arsen. Wenn der Patient Glück hatte und keine Überdosis verabreicht bekam, überlebte er.

Vom Handwerk zur Wissenschaft

Dann begann die Ära der Naturwissenschaften. Es war die Zeit der Universalgelehrten. Was bekannt war, konnte man im Kopf behalten und weitergegeben. Man konnte alles selbst machen. Wer einen Lehrstuhl, ein Hospital, Krankenschwestern und vielleicht sogar ein paar Basisinstrumente hatte, konnte auf allen Gebieten tätig sein, alleine Knochenbrüche versorgen, Blut abnehmen, Gliedmaßen amputieren, Blut zentrifugieren und unter dem Mikroskop untersuchen, Kulturen anlegen, ein Antiserum spritzen. Es war die Epoche der Medizin als Handwerk. Trotz des großen persönlichen Einsatzes der Ärzte war der Heilungserfolg nicht sehr groß, denn die Basis der Kenntnis über Krankheiten beruhte auf den unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen einzelner Ärzte.

Wissenschaft und Ethik

Daraus entwickelte sich eine wissenschaftlich orientierte Medizin mit Werten wie dem Schutz des Lebens und dem Streben nach überprüfbaren empirischen Methoden der Heilverfahren. Man sammelte, verglich, überprüfte Ergebnisse. Diese Bemühungen um Überprüfbarkeit und Vergleichbarkeit der Prognosen und die Verantwortlichkeit für die Wirkung der Behandlung waren entscheidend für die Loslösung der Methoden von den persönlichen Erfahrungen der Ärzte. Dieser Fortschritt verlief nicht geradlinig und einfach. Er verlangte große Disziplin, Mut, Kühnheit, manchmal Selbstversuche. Auf alle Fälle bedurfte es der Autonomie und Freiheit der Wissenschaft. Die mühsam erzielten Ergebnisse wurden von Generation zu Generation weitergegeben, überprüft, verworfen und neu erarbeitet.

Das Ergebnis dieser Dynamik ist die moderne Medizin. Heute verfügen wir über umfangreiche Erkenntnisse für nahezu zehntausend Krankheiten. Für viele davon gibt es Behandlungen, dennoch ist nicht alles heilbar. Zum Beispiel Ebola. Trotzdem ist die Medizin nicht hilflos. Zwar kann sie nicht garantieren, dass jeder Mensch ein langes und gesundes Leben führen kann. Aber sie könnte es den meisten ermöglichen, wenn die Gesellschaft die Kosten in den Griff bekommt und die Politik die Verteilungsprobleme löst. Die Menschlichkeit gebietet es uns, allen Kranken – sowohl in unserer Heimat in den Industriegesellschaften als auch in den Entwicklungsländern – die Medizin zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen.

Die Zeit der Teams

Was braucht es dazu? 10.000 Erkrankungen, 6.000 Medikamente, 4.000 medizinische und chirurgische Verfahren: Kein Arzt der Welt kann heute mehr Universalgelehrter sein. Nun haben wir einen Punkt erreicht, an dem wir uns als Ärzte eingestehen müssen: Wir können nicht alles wissen, geschweige denn alle Methoden beherrschen. Wir können nicht mehr alles selbst machen, Medizin ist zu komplex geworden. Wer heute Patienten nach den neuesten Erkenntnissen und Methoden behandeln will, braucht gut funktionierende Teams, um Fachwissen auf Patienten anzuwenden.

Waren im Jahre 1970 mit der Therapie eines typischen Krankenhauspatienten noch zwei Ärzte befasst, so waren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bereits bis zu 15 Kliniker involviert! Physiotherapeuten, Krankenschwestern – alle wurden zu Spezialisten, sogar Hausärzte.

Gefahr Klassenmedizin

Aber das Festhalten an dieser Struktur der eigenverantwortlichen Spezialisten hat sich zu einem Problem entwickelt. Die Komplexität und die Kosten unseres Gesundheitssystems überschreiten zunehmend die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Zum Glück nimmt die Lebenserwartung zu; die Menschen werden immer gesünder und bleiben bis ins hohe Alter aktiv. Gleichzeitig braucht die medizinische Versorgung immer mehr finanzielle Ressourcen. Der Mangel an Ressourcen und die Überforderung der Mitarbeiter im Gesundheitsbereich lassen eine Gefahr herannahen: die Klassenmedizin. Es darf nicht sein, dass Gesundheit und Freiheit von Leid und Schmerz käuflich werden.

Was wir brauchen, sind nicht nur Experten und Spezialisten, die um Kompetenzen ringen und über Zeitmangel klagen, sondern flexible Strukturen und flache Hierarchien, die es ermöglichen, hocheffiziente Teams zu bilden. Nur so können Systeme so ausgerichtet sein, dass nicht Ärzte, sondern Patienten im Mittelpunkt stehen.

Strukturwandel notwendig

Unser Gesundheitssystem, das seit der Moderne eine hervorragende Versorgung der Bevölkerung gewährleistete, ist durch Komplexität, Teuerung und Überforderung an den Grenzen der Effizienz. Weder durch mehr Investitionen noch durch zusätzliche Einzelspezialisierungen kann die Gesamtsituation verbessert werden. Es braucht einen konstruktiven Strukturwandel in Richtung einer evidenzorientierten Teambildung. Unsere hervorragenden, fleißigen Spezialisten in Medizin, Pflege und Forschung verfügen über modernste Technologien – wir müssen jedoch ihr Wissen besser an die Kranken bringen.

Was die Kosten betrifft: Dass sie steigen, ist eine Tatsache. Dabei entsteht ein Gefühl der Resignation. Doch der Fortschritt schafft neue Möglichkeiten. Früher wurde etwa eine schwere Arthritis mit Aspirin behandelt – was meistens nichts half. Heute kann Patienten mit einem Hüftersatz oder einer Knieersatz-Operation geholfen werden. Das bringt den Patienten Jahre ohne Beschwerden. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Zehn-Cent-Aspirin-Behandlung durch die relativ teure Hüftgelenksoperation ersetzt wird.

Kein Grund zur Resignation

Allerdings gibt es ein Missverständnis: Die teuerste Krankenversorgung muss nicht unbedingt die Beste sein. Und umgekehrt. Auch in der komplex gewordenen Medizin gibt es Wege, dies durch Evidenz festzustellen. Es gibt also keinen Grund zur Resignation. Dank der Forschung können wir nachvollziehbar darlegen, dass nicht die teuerste Medizin, sondern die effizienteste Medizin die beste ist.

Auf die Planung kommt es an

Merkwürdigerweise sind jene Systeme, die mit den besten Ergebnissen zu den niedrigsten Kosten aufwarten, auch die erfolgreichsten. Die Begründung ist einfach. Diese Systeme haben Wege gefunden, die Effizienz zu steigern und gleichzeitig Ressourcen zu sparen, indem sie all die unterschiedlichen Elemente, Methoden und Komponenten zu einem Ganzen zusammenführen und durch Koordination sehr kooperative und effiziente Teams bilden. Es ist nicht genug, große Einzelkomponenten wie etwa MRI (Magnetic Resonance Imaging) zu haben. Doch leider sind wir in der Medizin von der Vorstellung getrieben, nur mit großen, einzelnen Komponenten hervorragende Ergebnisse erreichen zu können. Wir wollen die besten Medikamente, die besten Technologien, die besten Spezialisten, aber wir denken kaum darüber nach, wie all dies zusammengefügt werden soll. Auf diese Weise entsteht eine fehlgeleitete Planungsstrategie, deren Umsetzung zwangsläufig zum Misserfolg führen muss.

In einem Gedankenexperiment lässt sich das verdeutlichen. Was geschieht, wenn jemand ein Auto baut, unter der Voraussetzung, nur die besten Bestandteile zu verwenden? Das würde dazu führen, dass man Porsche-Bremsen einsetzt, einen Ferrari-Motor, eine Fahrzeugkarosserie von Volvo, ein Chassis von BMW und einen Hybridantrieb von Lexus. Was kommt dabei heraus? Ein sehr teurer Schrotthaufen, mit dem man nicht fahren kann.

Checklisten und Koordinierung

Umgelegt auf die Medizin glaube ich, dass es dafür Koordinatoren braucht, die Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen konstruktiv zu Effizienzteams zusammenführen. Kein Flughafen, keine Behörde, keine Fabrik, keine Firma und kein Orchester könnten ohne kooperative Koordination funktionieren. Um ein solches System einzuführen, braucht es außenstehende Experten. Dabei ist es entscheidend, gerade den Misserfolgen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, so wenig verlockend das auch klingen mag. Fehler aufdecken: Darum geht es. Viele Studien in der Hochrisikoindustrie oder der Luft- und Raumfahrt haben gezeigt, dass Checklisten und Koordinationsmanagement die geeigneten Werkzeuge sind, um Experten besser zu machen. Die Sicherheits-Checkliste vor, während und nach einer Operation, die neben Chirurginnen und Chirurgen alle Teammitglieder einschließt, hilft mit, Komplikations- und Todesraten jeweils um mehr als 30 Prozent zu verringern – mehr als jedes Medikament es vermag.

Phase des Übergangs

Wer Effizienzteams bildet, braucht die Bereitschaft zur gleichwertigen Zusammenarbeit aller Berufsgruppen. Derartige Effizienzteams werden sich nur langsam bilden lassen, denn sie entsprechen nicht der traditionellen Kultur in chirurgischen Fächern. Es ist klar, dass es Widerstand gegen die Verlagerung der Kompetenz von Spezialisten auf Teams geben wird. Einen ähnlich großen Perspektivwechsel hatten wir schon öfters in der Medizin, etwa als die Kompetenz sich von den Naturheilern auf die Naturwissenschaftler, von den Alchemisten auf Chemiker und von den Universalgelehrten auf die Spezialisten verlagerte.

Heute befinden wir uns in der Phase des Übergangs. Die Handlungskompetenzen verlagern sich von den Spezialisten und Experten zusehends auf patientenzentrierte Effizienzteams. Die neuen Werkzeuge wie Checklisten, Kompetenzmanagement und Effizienzteams konfrontieren die Medizin mit der ernüchternden Tatsache, dass der Einzelne nicht über das System verfügt, sondern nur ein Element in einem System ist, das zum Wohle der Patienten Dienstleistungen zu erbringen hat.

Neues Wertesystem

Es geht auch um neue Werte in der Medizin: Schon das Führen einer Checkliste erfordert die respektvolle Berücksichtigung der Meinung aller Mitglieder eines Teams. Der Behandlungserfolg beruht nicht mehr nur auf Anweisung und Ausführung, sondern auf gegenseitiger Achtung und der Anerkennung der Leistungen aller Mitarbeiter, auf Disziplin und Bescheidenheit, auf die Bereitschaft zur Selbstkritik. Das ist ziemlich das genaue Gegenteil zu dem Weg, auf dem bisher der Fortschritt erreicht wurde: überragende Einzelleistungen.

Überall ist das Wissen explodiert und hat zu Komplexität und Spezialisierung geführt. Nun ist der Punkt erreicht, an dem man erkennen muss, dass bei aller Individualität und allen hervorragenden Einzelleistungen die Komplexität eine Zusammenarbeit in der Gruppe erfordert. Die Zeit der Unabhängigkeit, der Autarkie und der Autonomie der Einzelverantwortung in der Medizin ist vorüber. In der Teamarbeit liegt die Zukunft. (Shahrokh F. Shariat, 31.7.2015)