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"Wer keine Fragen stellt, bekommt künstlich aufgepumptes Fleisch."

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"Wurst spiegelt die Wertschätzung der Vorfahren dem Fleisch gegenüber wider."

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Billig oder Handwerkskunst: Kritische Ernährung kann auch Genuss bedeuten, sagt Foodaktivist Hendrik Haase (rechts).

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Wien - Der Appetit kann einem vergehen. Europa ist wie kein anderer Kontinent für seinen Konsum auf fremdes Land angewiesen, berichtet unter anderem der diesjährige Bodenatlas. Der sogenannte Land-Fußabdruck der EU beträgt demnach pro Jahr 640 Millionen Hektar – anderthalbmal so viel wie die Fläche aller 28 Mitgliedstaaten. Allein für den Fleischkonsum in der EU werden in Lateinamerika Futtermittel auf einer Ackerfläche angebaut, die so groß wie England ist, heißt es in der Studie. Doch Verzicht und Askese sind nicht die Lösung, sagen Vertreter einer kulinarischen Revolution und fordern vielmehr: Genuss muss wieder politischer werden.

Die Trends seien alarmierend, sagt auch Stefan Giljum, Leiter der Forschungsgruppe "Nachhaltige Ressourcennutzung" der WU Wien, wo unter anderem der weltweite Ressourcenverbrauch erforscht wird: Der Pro-Kopf-Konsum von Ressourcen in Industrieländern ist fast unverändert hoch und beträgt in OECD-Ländern durchschnittlich 15 bis 20 Tonnen pro Jahr. Eine Änderung des Konsumverhaltens sei mittelfristig notwendig, sagt Giljum. Grundlegend für ein kritisches Konsumverhalten sei jedoch die Bereitstellung von Information. "Es gibt kaum Labels, die erklären, welcher Ressourcenverbrauch hinter den Produkten steckt", sagt der Wissenschafter. Es gebe zwar bereits einzelne Initiativen von Produzenten, die zum Beispiel informieren, wie viele Rohstoffe oder Wasser bei der Herstellung verbraucht wurden, aber ein standardisiertes Label fehle.

Das Tier frisst die Gentechnik

"Gerade beim Tier steht nirgends, womit es eigentlich gefüttert wurde. Dass wir bereits gentechnisch verändertes Soja essen, ist den meisten unbekannt. Es frisst ja das Tier die Gentechnik, und das muss nirgends deklariert werden", sagt Foodaktivist Hendrik Haase. Im Gegensatz zu vielen Kollegen sieht er die Lösung nicht in der veganen Bewegung, sondern im politischen und kritischen Genuss, wie er auch regelmäßig auf seinem Blog wurstsack ausführt. "Es würde einen riesigen Aufschrei geben, würden Konsumenten Wein so wie Fleisch einkaufen", ist er überzeugt, denn: "'Wein – geerntet und abgefüllt in Deutschland' würde dann auf der Flasche stehen. Kein Winzer, kein Anbaugebiet, keine besondere Rebsorte, kein Jahrgang. Kein Genießer würde so Wein kaufen. Bei Fleisch tun wir es."

Der Foodaktivist fordert auch von Konsumenten einen mündigen Umgang mit dem Essen: "Wer keine Fragen stellt, bekommt künstlich aufgepumptes Fleisch von schnell wachsenden Hybridtieren aus Inzuchtzüchtung – mit Antibiotika behandelt, unwürdig und unfair gehalten, geschlachtet und verarbeitet."

Philosophie des guten Essens

"Lebensmittel- und Lebensqualität hängen zusammen. Dennoch geht immer mehr Wissen und Esskultur verloren", sagt Gerhard Ammerer vom Institut für Gastrosophie der Universität Salzburg. "Den Umgang mit Lebensmitteln in den Unterricht einzubeziehen könnte jedenfalls einen Schritt zu einer Verbesserung der Lebensqualität bedeuten", sagt er. Die Wortschöpfung "Gastrosophie" setzt sich aus den griechischen Worten "sophos", also weise oder klug und "gaster", Magen, zusammen. "Im 19. Jahrhundert begann man mit Reflexionen über Ernährung, mit allem, was dazugehört: Anbau, Viehzucht, vor allem die Diskussion über das Töten zum Zwecke der Ernährung", sagt Ammerer.

"Kulinarische Bildung von Kindesbeinen an ist eine Grundvorraussetzung zur Lösung der kulturellen Krise unseres momentanen Ernährungsstils", ist auch Haase überzeugt. Ein profundes Wissen über die eigene Ernährung und deren eigenständige Zubereitung gehört bislang zu keinem Schulfach.

Gute Wurst sei ein Beweis dafür, wie man ohne Geschmacksverstärker, nur mit Salz, Luft und Zeit "fantastische und von den Laboren der Industrie bis heute unerreichte Aromen erzeugen kann", sagt Haase. Bei guter Wurst sei das "Weniger, dafür besser" in vielen Spezialitäten schon beantwortet, sagt er und ergänzt: "Gute Würste sind wertvoll und haben ihren Preis."

Fleisch wertschätzen

Wurst spiegle die Wertschätzung der Vorfahren dem Fleisch gegenüber wider. Denn fast alle Wurst- und Schinkenprodukte entstanden aus dem Willen heraus, möglichst alle Teile eines Tieres zu verwerten, haltbar und genießbar zu machen. "Diese Kulturtechniken waren schon immer das, was man heute als 'Nose to tail' feiert", betont Haase.

Von der Ernährungskrise profitieren Produzenten, die schnelle und einfache Lösungen anbieten. Das Schnitzel wird durch künstlich aromatisierte und eingefärbte Ersatzprodukte ausgetauscht. "Immer weniger Menschen haben die Chance, ihren Gaumen zu trainieren und Produkte zu probieren, die handwerkliche Aromenvielfalt aufweisen", meint Haase. Der Erfolg solcher Produkte ist seiner Meinung nach auch "ein Zeichen für den kulinarischen Wissensverlust unserer Gesellschaft". (Julia Schilly, 1.6. 2015)