STANDARD: Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.

Pilgermair: Oh, eine kleine Marzipankartoffel. Auf der Stelle wird die genossen: Ich bin ein Süßer.

STANDARD: Ich dachte, Sie mögen Dürüm lieber. Aber das ist mühsam zu essen, beim Reden.

Pilgermair: Dürüm mag ich auch, ist aber nur eine Verlegenheitslösung, wenn ich um 22 Uhr hier im Büro sitze und Akten studiere.

STANDARD: Sie sind seit April als Verfahrensrichter im U-Ausschuss in Wien. Waren Sie eigentlich schon im Happel-Stadion? Sie wollen ja alle Stadien besuchen, weil sie Fußball so lieben.

Pilgermair: Im Happel-Stadion war ich nicht mehr seit meiner Jugend. Das hol ich jetzt alles nach.

STANDARD: Bei den Konzerten der Rolling Stones waren Sie nicht im Stadion im Wiener Prater? Sie sind doch Rockfan.

Pilgermair: Doch, den Stones bin ich immer nachgefahren ...

STANDARD: Aber ein 68er waren Sie nicht. Bis auf den Rauschebart halt.

Pilgermair: "Ich bin ein Entwickler, ein Veränderer."

Pilgermair: Nein, ich bin ein Entwickler, ein Veränderer. Den Rauschebart hatte ich, bis er grau und ich 50 war. In einem dreiwöchigen Griechenland-Urlaub habe ich jede Woche eine Kürzung vorgenommen, um mich an das veränderte Gesicht zu gewöhnen.

STANDARD: Sie haben einst den Tiroler Justizsportverein mitbegründet...

Pilgermair: Und als junger Richter die Fußballmannschaft aufgestellt. Mich selbst manchmal nicht, weil ich meine Grenzen kenne.

STANDARD: Ihre Kollegen sagen, Sie seien ein Verteidiger gewesen, an dem man nicht vorbeikam.

Pilgermair: Richtig. Aber ich habe balltechnisch nicht geglänzt, also musste ich das durch Ausdauer und Körpereinsatz kompensieren.

STANDARD: Mit Ellbogen und Schienbeintritten?

Pilgermair: Ich hatte eine gesunde Härte. Aber ich konnte auch einstecken. Ich habe immer eingesteckt und ausgeteilt.

STANDARD: Apropos austeilen. Als Verfahrensrichter dürfen Sie die Auskunftspersonen als Erster und 15 Minuten lang befragen. Sie sind sehr streng dabei – wollen Sie die Leute so zum Reden bringen?

Pilgermair: Ich bin nicht streng. Aber 15 Minuten inklusive Antworten ist halt sehr wenig. Wenn die Person dann auch noch ausweicht oder etwas wiederkäut, rennt mir einfach die Zeit davon. Also muss ich unterbrechen, und das könnte den Anschein von Ungeduld oder Strenge vermitteln. Das ist aber nicht gewollt. Gewollt ist, dass ich etwas herausbringe, was von Bedeutung ist.

STANDARD: Wann ist der U-Ausschuss von Bedeutung?

Pilgermair: Wenn alle wesentlichen Aspekte, alle Facetten ungeachtet der Personen behandelt wurden. Es gibt die Sicht der Griss-Kommission, des Rechnungshofs, Rolf Holubs – dazu kommt die des Ausschusses.

STANDARD: Sie sind seit einem Jahr in Pension, waren 39 Jahre lang abwechselnd Richter und Staatsanwalt. Warum haben Sie sich nicht entscheiden können?

Pilgermair: Warum hätte ich auf das eine oder das andere verzichten sollen? Ich neige immer zum Mehr, die Chancenvielfalt ist mir wichtig. Ich spiele auch nicht nur Fußball, sondern laufe, gehe auf den Berg und Skifahren. Aber ich bin nirgendwo Supersportler.

STANDARD: Sie machen alles, aber alles durchschnittlich?

Pilgermair: Das ist eine böse Frage. Beruflich tue ich natürlich das, was ich gut kann. Dass ich als junger Richter in die Staatsanwaltschaft wechselte, war Zufall und pragmatisch. Ich war Familienvater, wir wollten von Kufstein nach Innsbruck übersiedeln – und man bot mir dort eine Stelle als Staatsanwalt an. Die hab ich genommen.

STANDARD: Sie wurden Leiter der Oberstaatsanwaltschaft in Linz, dann Präsident des Oberlandesgerichts Innsbruck. Man sagt, durch diese Sprünge hätten Sie schneller Karriere gemacht.

Pilgermair: Das stimmt nicht. Ich finde den Wechsel von Staatsanwaltschaft zu Richteramt gut, das sollte öfter geschehen.

STANDARD: Aber die Aufgaben von unabhängigen Richtern und weisungsgebundenen Staatsanwälten sind doch völlig unterschiedlich.

Als Staatsanwalt stellt man viel öfter Verfahren ein als man anklagt.
Foto: STANDARD/Hendrich

Pilgermair: Der Staatsanwalt muss bei ausreichendem Verdacht anklagen, wenn sich aber bei der Hauptverhandlung herausstellt, dass die Anklage doch nicht begründet war, muss der Richter freisprechen. Als Staatsanwalt stellt man viel öfter Verfahren ein als man anklagt.

STANDARD: Hat Ihnen das dann leid getan?

Pilgermair: (lacht) Jetzt muss ich wirklich herzhaft lachen. Ein Staatsanwalt ist doch kein Jäger, dem es leidtut, wenn eine Beute entwischt. Es wiegt, was es hat: Ist ein Tatverdacht da, ist anzuklagen, sonst einzustellen. Nicht mehr und nicht weniger. Der Staatsanwalt hat da völlig unbeteiligt zu sein, wie ein Richter. Ich habe nie verstanden, wenn Staatsanwälte von Gewinnen oder Verlieren sprechen, oder gar Verhaftungen feiern.

STANDARD: Zuletzt haben Richter bei Freisprüchen oft hinzugefügt, wie unmoralisch das Tun der gerade Freigesprochenen war. Der Richter: ein Moralapostel?

Pilgermair: Manche lassen sich hinreißen zu emotionalen Äußerungen – aber professionell ist das nicht.

STANDARD: Ist Ihnen als Strafrichter denn nie ein Fall zu Herzen gegangen?

Pilgermair: (denkt nach) Doch. Mir ist ein Fall von 1975 in Erinnerung, bei dem ich nach einem einfachen Verkehrsunfall eine unbedingte Geldstrafe von ein paar hundert Schilling ausgesprochen habe - obwohl nach der Strafrechtsreform von 1975 auch eine bedingte Strafnachsicht möglich gewesen wäre. Aber damals gab es noch Unsicherheiten mit dem neuen Rechtsinstrument, ein paar Monate später hätte ich eine bedingte Strafe verhängt. Das hat mir zu denken gegeben.

STANDARD: Und ein Fall aus Ihrer Zeit in der Staatsanwaltschaft?

Pilgermair: Der Freispruch nach dem Unglück von Kaprun, dessen Verhandlung in der Instanz ich als Oberstaatsanwalt mitbegleitet habe. Mir hängt bis heute nach, dass die Opfer völlig, völlig hilflos im Zug eingeschlossen waren: kein Hammer im Waggon, keinerlei Kontaktmöglichkeit zum Zugführer. Das regt mich heute noch auf. In jeder Straßenbahn gab es damals Hämmer an den Fenstern oder Not-Stopss - dass diese Zugausstattung in der Gletscherbahn damals state of the art gewesen sein soll, das ist mir nach wie vor völlig unverständlich. Dass das Verfahren mit Freispruch geendet hat, hat mir sehr zugesetzt. Diese Geschichte hat die Angehörigen zerstört.

STANDARD: Sie haben Ihr ganzes Berufsleben im Strafrecht verbracht. Macht einen das nicht zynisch oder paranoid?

Pilgermair: Nein, ich halte es mit der Gelassenheit der Stoiker.

STANDARD: Und trotzdem wollen Sie gern ganz emotional "Richter mit Herz und Blut" genannt werden?

Pilgermair: Ich will so nicht genannt werden, das ist eine falsche Zuschreibung von Ihnen: Ich war ein Richter mit Herz und Blut.

STANDARD: Und wie wollen Sie genannt werden?

Pilgermair: (denkt nach, lacht) Ein Richter, der sich voll eingesetzt hat, einer mit Herzblut.

STANDARD: Sie betonen gern, Sie hätten nie über von Ihnen gefällte Urteile nachgedacht, seien kein Grübler. Die Vergangenheit ist vorbei und damit basta?

Wenn ich steckenbleibe im Grübelmodus, kostet mich das nur Zeit und Energie. Ist doch schade drum.
Foto: STANDARD/Hendrich

Pilgermair: Stimmt, ich verhafte nicht in der Vergangenheit. Wenn ich steckenbleibe im Grübelmodus, kostet mich das nur Zeit und Energie. Ist doch schade drum. Einer meiner Lieblingssätze ist ...

STANDARD: "Keiner ist eine Insel" von Thomas Merton.

Pilgermair: Auch, aber den Satz habe ich schon sehr oft vermarktet. Ich meine den alten Seneca: "Semper idem velle ac nolle": Beständig sein, in dem, was man will und in dem, was man nicht will. Ich nütze zwar meine Chancen, wenn sie für mich und die Gesellschaft dienlich sind, aber meine Werte sind gleichgeblieben.

STANDARD: Wo ist eigentlich das Schiff von Ihrem Schreibtisch, das Sie erinnert, dass Sie auf Kurs bleiben wollen?

Pilgermair: Daheim. Hier im Büro in Wien habe ich nicht einmal einen Kasten oder eine Pflanze. Stört mich aber nicht, denn so gern ich genieße: Ich könnte auch auf kleinstem Raum leben und arbeiten.

STANDARD: Apropos. Haben Ihnen die Leute, die Sie ins Gefängnis geschickt haben, nie leidgetan?

Pilgermair: Am ehesten dann, wenn Affekt, Emotionalität und Verstrickung eine Rolle spielten. Das macht einen großen Unterschied zu einem eiskalten Täter, der raffiniert auf Täuschung, Bereicherung, Aggression aus ist.

STANDARD: Die sind wirklich böse?

Pilgermair: Ja, das ist das Böse.

STANDARD: Was ist das Böse in Ihnen?

Pilgermair: Dass ich sehr anstrengend bin, wenn ich von etwas überzeugt bin.

STANDARD: Und Sie gehen bei Rot über die Kreuzung.

Pilgermair: Aber nur, wenn es gefahrlos ist und keine Kinder zuschauen.

STANDARD: Was täten Sie, wenn Sie in Haft müssten?

Pilgermair: Diese Frage möchte ich nicht lesen.

STANDARD: Die Fragen können Sie sich nicht aussuchen, die Antworten schon.

Pilgermair: Ich würde lesen, denken und, so weit möglich, Sport machen.

STANDARD: Sie sagen oft von sich, Sie seien Teamworker. Viele Ihrer Beobachter bezeichnen Sie aber als Alleingänger, ob auf dem Berg oder im Job. Wer hat Recht?

Pilgermair: Das hat schon einen Hintergrund: Ich bin immer ein Leister gewesen. Einer, der sich mit Herzblut einbringt und nicht auf die Uhr schaut und sagt: Ich geh jetzt Fußballspielen, ins Gasthaus oder feiern. Und ich bin auch keiner, der sich verhabert. Wenn man distanziert ist, sagen andere halt, man sei ein Alleingänger.

STANDARD: Sie gelten als extrem gut vernetzt in der Justiz. Sie haben jeden Justizminister gekannt, und, zum Beispiel, als Gast zum von Ihnen gegründeten Forum der Staatsanwälte geholt. Sie reden den Leuten Löcher in den Bauch, wenn Sie etwas von Ihnen wollen?

Pilgermair: Ja. Ich bin arg intensiv und höre nicht auf, lege nach, lege noch einmal nach. Ich gebe nicht auf. Ich habe einen langen Atem.

STANDARD: Es war Ihnen egal, von welcher Partei der jeweilige Minister war. Anpässlerisch?

Pilgermair: Gar nicht. Ich bin oft angeeckt und habe trotzdem Karriere gemacht. Es ging mir darum, etwas weiterzubringen. Ich gehe einmal mit dem und einmal mit dem anderen ein Stück des Weges, habe kein Problem mit wechselnden Koalitionen – so lange es fair, rechtlich okay und nicht unmoralisch ist. Konstellationen verändern sich; den, mit dem ich heute streite, kann ich morgen für eine sinnvolle Kooperation brauchen.

STANDARD: Sie selbst nennen sich parteipolitisch unabhängig. Aber so ein richtiger Linker sind Sie, der bei den Franziskanern in Hall ins Gymnasium gegangen ist, aber auch nicht ...

Pilgermair: ... ich bin auch nicht das andere. Ich passe in kein enges Schachtele.

STANDARD: Was halten Sie eigentlich von Bankern?

Pilgermair: Fragen Sie mich das nach dem Ausschuss. Was ich schon jetzt sagen kann: Die Hypo hat unglaublich, hochriskant expandiert. Dort haben sie gedacht, in ein El Dorado zu kommen, wo die Goldnuggets am Boden liegen. Dieses Goldfieber hat ja offenbar auch die BayernLB befallen: Es war wie der Aufbruch nach Klondike.

STANDARD: Sie suchen immer nach einem Antrieb. Was war der Antrieb der Hypo-Banker?

Pilgermair: Umsatz zu machen, etwas zu gelten, im Wettbewerb vorn dabei zu sein, zu spielen.

STANDARD: Was spielen Sie denn?

Pilgermair: Ich bin kein Spieler.

STANDARD: Trotzdem können Sie nicht verlieren, heißt es.

Pilgermair: Gern verliere ich nicht. Aber ich kann mit Niederlagen umgehen.

STANDARD: Werden Sie nach dem U-Ausschuss Ihrer Gewohnheit folgend ein Dankbarkeitskerzerl in einer Kirche anzünden?

Pilgermair: (lacht) Fürs Berufliche sind die nicht gedacht. (Renate Graber, 31.5.2015)