Wien - Irgendwo in den südlichen Weiten Wiens liegt die Atzgersdorfer Sargfabrik. Die Manufaktur für Holzfutterale ist inzwischen aufgelassen. Und doch eignet sie sich famos als Aufbewahrungsort für Fjodor Dostojewskis Brüder Karamasow. Die Berliner Volksbühne hat in der Halle "F23, Zusammenbau" eine temporäre Außenstelle errichtet.
Die Brüder Karamasow ist Dostojewskis Gipfelleistung. Klugen Köpfen wie Vladimir Nabokow ist nicht verborgen geblieben, dass dieser dicke Roman frei ist von Prosaduftstoffen. Umständliche Beschreibungen der russischen Lebenswelt sucht man darin vergeblich. Stattdessen tragen die Figuren ihre Herzen und Hirne auf der Zunge. Man kann gar nicht entscheiden, ob die einen oder die anderen heißer sind. Die Geschichte des Vatertyrannen Karamasow und seiner vier Söhne ist Dostojewskis verkapptes Geschenk an das Theater.
Vorgetragen werden Weltanschauungen. Der Zustand der Überhitzung trägt einen russischen Namen, "nadryv", was so viel bedeutet wie: Zerrissenheit. Die Figuren sind furchtbaren Spannungen ausgesetzt. Sie versuchen, ihre keineswegs unkeuschen Begierden mit dem Gebot der Menschenliebe in Einklang zu bringen. Das macht sie rasend. Für alle Rasenden schlägt auch Frank Castorfs Ost-Herz. Sein knapp siebenstündiger szenischer Großessay ist die wunderlichste Liebeserklärung dieser Festwochen und Tage. Sie stiftet eine vollkommen unmögliche Ehe: die Verbindung von Anarchismus und kirchlicher Orthodoxie.
Heißlaufen der brüllenden Schauspieler
Der Apparat, der die Verbindung herstellt, ist die Handkamera. So konsequent hat Castorf noch nie einen Bogen um die Bühne geschlagen. Dabei ist alles vorhanden: Die Figuren sind vollzählig. Austatter Bert Neumann hat einen Zaun aus rohen Brettern errichtet. Rechter Hand suppt ein knöcheltiefer Teich. Das Haus des gierigen alten Karamasow (Hendrik Arnst) enthält einen minutiös gedeckten Tisch. Ein kyrillisches Coca-Cola-Schild erzählt von der Anfechtung des heiligen Russland durch den westlichen Konsum.
Der Hauptdarsteller aber ist der Projektionsschirm. Hier laufen alle Fäden zusammen. Hier kann man den brüllenden Volksbühne-Schauspielern beim Heißlaufen zuschauen. Ein Gutteil der Handlung findet überhaupt im Hof statt. Die Abendsonne legt sich sengend auf Dmitrij Karamasow (Marc Hosemann). Der läuft unter der Bedeckung eines schäbigen Zylinders zum Starzen.
Ein Starez ist in Russland ein heiliger Mann. Hier wird er von der Französin Jeanne Balibar als fastendes Faktotum gespielt. An seinen Lippen aber hängt der jüngste der Brüder, Aljoscha (Daniel Zillmann). Dieser ist der authentische Ohrenzeuge einer Gesellschaft aus den Fugen. Ein weiches, schweres Kind als Mann, das Kohlsuppe in sich hineinschaufelt, wenn es den Ergüssen seines spirituellen "Vaters" lauscht.
Wahre Textgläubigkeit
Man gleitet in diese fantastische Veranstaltung hinein wie in bewegtes Wasser. Die Hauptachse folgt der Romanvorlage. Castorf ist ganz entgegen seinem Klischee fast schon talmudisch textgläubig.
Kein Fitzelchen entgeht seiner Aufmerksamkeit. Er kratzt und schürft an Russland herum. Neben den famosen Darstellern gibt es weitere Mitwirkende zu vermelden: die Sowjetunion. Die Schriften eines gewissen DJ Stalingrad. Auf der Anklagebank sitzen auch nicht die Karamasow-Söhne. Der Feind ist der Kapitalismus, am wirkungsvollsten verkörpert in der törichten Hoffnung, man könne, wenn alle Glaubensstricke reißen, einfach so "nach Amerika" auswandern. Man winkt mit gezinkten Geldscheinen. Die Schaumweinpartys finden vor den Ikonen der käuflichen Subversion statt. Der Sekt ist natürlich warm, und das Fotokonterfei von Courtney Love steht zum Jugendbildnis Stalins in keinem erkennbaren Widerspruch.
Womit es Zeit wird, die Schauspieler vor den imaginären Vorhang zu bitten. Iwan Karamasow (Alexander Scheer) bildet den Glutkern dieser insgesamt vorzüglichen Aufführung. Das Gleichnis vom Großinquisitor brüllt und fuchtelt er in die Nachtluft. Jeder einzelne Texthänger wirkt wie das Zugeständnis an die stockende Tätigkeit des Denkens.
Männadische Raserei
Wie in der Wirklichkeit auch sind hier die Frauen die Heldinnen. Es gilt zu rekapitulieren: Vater und Sohn Karamasow geraten sich wegen ihrer gemeinsamen Liebe zur hinreißenden Gruschenka (Kathrin Angerer) in die Haare. Der Ausführende des Vatermordes ist der Halbbruder Smerdjakow und wird von Sophie Rois als begriffsstutziger junger Lord gespielt. In unterschiedlichen Stadien mänadischer Raserei sind Lilith Stangenberg und Margarita Breitkreiz zu bewundern. Frank Castorf wird nicht mehr bis in alle Ewigkeit Volksbühnen-Intendant sein. Aber sein künstlerischer Weg kann noch weit hinaus ins Freie führen, in unerforschtes Denkgelände. (Ronald Pohl, 31.5.2015)