Julian Voloj und Claudia Ahlering
"Ghetto Brother"

Avant-Verlag 2015
128 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Voloj/Ahlering/Avant
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"Im Fernsehen sah ich mal Bilder vom zerbombten Dresden. Die South Bronx war wie Dresden. Und wir waren die Könige dieses Trümmerhaufens", sagt Benjamin Melendez. Anfang der 1970er-Jahre war Melendez besser bekannt als "Yellow Benjy". Er war Gründer und Anführer der Ghetto Brothers, eine der größten und einflussreichsten Gangs zwischen den verwahrlosten Blocks der South Bronx.

Der in New York lebende deutsche Fotograf Julian Voloj hat Benjamin Melendez aus den Trümmern der ungeschriebenen Geschichten ausgegraben. Nachdem er ihn durch Zufall kennengelernt hatte und während zahlreicher Spaziergänge die Stationen seines Lebens abgeklappert hatte, dokumentierte Voloj seine außergewöhnliche Story gemeinsam mit der Hamburger Künstlerin Claudia Ahlering in einer Graphic Novel - "Ghetto Brother", auf Deutsch erschienen im Avant-Verlag. Das Buch war auch nominiert als für den am 6. Juni vergebenen Peng-Preis des Comicfestivals München für den besten deutschsprachigen Comic. (Gewonnen hat ihn übrigens der bereits besprochene Band "Irmina" von Barbara Yelin.)

Melendez war nicht einfach nur Gang-Leader, er war auch Initiator eines einmaligen Waffenstillstands im Krieg auf der Straße. Ganz nebenbei ebnete er damit den Weg zur HipHop-Kultur, die ihre Wiege in der Bronx hatte.

100 Gangs regierten die Bronx

Der Sohn puertoricanischer Einwanderer mit jüdischen Wurzeln streifte von klein auf durch die Straßen der Bronx - keine ungefährliche Angelegenheit: "Du gingst vor die Tür und wusstest nie, ob es nicht dein letzter Tag auf Erden sein würde", erzählt Melendez. Den einzigen Schutz bot die Mitgliedschaft in einer der unzähligen Gangs. Allein in der Bronx regierten mehr als 100 Gangs mit mehr als 10.000 Mitgliedern das von Schlaglöchern durchsiebte Pflaster. Straßenecken markierten ihre Territorien, und so überbrückten die Gangs nicht selten die Kluft zwischen Afroamerikanern und Puertoricanern, die trotz derselben tristen Lebensverhältnisse gewöhnlich nicht viel füreinander übrig hatten.

1967 - in dem Jahr, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden und der Vietnam-Krieg zum Dauerproblem wurde - gründete Melendez als 14-Jähriger gemeinsam mit seinen Brüdern seine eigene Gang, die "Ghetto Brothers". Was Ghetto eigentlich bedeutete und dass er selbst eine jüdische Herkunft hatte, war Melendez zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst.

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Als Markenzeichen, das auf die Nieten-Jeansjacken genäht wurde - die sogenannten "Colors" -, wählten die Ghetto Brothers drei Mülltonnen, als Symbol für die völlig verdreckten und verarmten Stadtviertel, in denen sie lebten. Sie teilten sich die Straßen mit anderen Gangs mit klingenden Namen wie Black Spades, Savage Skulls, Savage Nomads, Seven Immortals, Reapers, Turbans. Die Begriffe sprechen für sich: Ende der 60er-Jahre ging es nicht gerade zimperlich zur Sache zwischen den mafiös agierenden Gangs.

Waffenstillstand der Gangs beendet Gewaltspirale

Das System hatte Erfolg: Die Gangs boten Familienersatz, Anerkennung, Aufstiegsperspektiven und nicht zuletzt Tagesstruktur in Gegenden, die selbst die Polizei aufgegeben hatten. Und offensichtlich auch die Stadtverwaltung: Das lokale Spital wurde nur "das Schlachthaus" genannt. Die Gewaltspirale samt wechselseitiger Rachefeldzüge und einer wachsenden Drogenkriminalität schraubte sich immer tiefer in die Bronx.

1971 erreichte das todernste Spiel mit der Ermordung von "Black Benjy" von den Ghetto Brothers, der ein Friedensangebot vermitteln wollte, einen Höhepunkt. Trotz vieler Widerstände entschloss sich Benjamin "Yellow Benjy" Melendez, nicht zurückzuschlagen sondern mit der Unterstützung eines Vertreters der Black Panthers stattdessen alle Gangleader an einen Tisch zu holen und ein nachhaltiges Friedensabkommen auszuhandeln. Ein eindrucksvoller Schachzug, der tatsächlich aufging. Der Waffenstillstand wurde am 8. Dezember 1971 geschlossen und unter Beisein von Presse, Sozialarbeitern und unter Polizeischutz von allen anwesenden Gangleadern unterzeichnet.

Die Geburt von HipHop

Voloj und Ahlering arbeiten in dem in Schwarz-, Weiß- und Grautönen gehaltenen Comic eine ganze Menge auf: Amerikanische Sozial- und Migrationsgeschichte, ein bisschen Musikgeschichte, ein bisschen Jugendkultur. Es tauchen Notizen zu fehlgeleiteter Stadtentwicklung, zur puertoricanischen Minderheit und zur Bürgerrechtsbewegung in den USA auf. Es ist fast etwas zu viel, was die beiden in oft ein wenig zu klein geratene, verschachtelte Panels packen. Vieles wird nur angeschnitten, wirklich fundierte Hintergründe darf man sich nicht erwarten.

Das ist aber völlig in Ordnung, denn schließlich geht es um den Lebensweg eines Underdogs aus der Bronx, der eben auch einige prägnante Ereignisse der frühen 70er kreuzte. "Nach dem Waffenstillstand wurde unsere Welt größer", sagt Melendez. "Man ging zu Partys in Gegenden, in die man früher nie einen Fuß gesetzt hatte. Es war egal, welche Weste du trugst." Man battelte sich weiter, aber nicht unbedingt mit Waffen, sondern auf dem DJ-Pult, beim Breakdance und Graffiti. DJ Kool Herc, der als Begründer des HipHop gilt, schmiss seine ersten Partys, aus dem Warlord der Black Spades wurde der berühmte DJ Afrika Bambataa, der Anführer der Universal Zulu Nation.

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Mitte der 70er war es dann aber schon wieder vorbei mit dem Frieden in der Bronx. Die Gangs lösten sich auf, die Gewalt kehrte zurück und Heroin eroberte die Sozialbauten. Auch "Yellow Benjy" zog sich aus dem Gang-Business zurück, um seine jüdischen Wurzeln, die seine Eltern stets im Geheimen pflegten, zu suchen.

Die Themendichte geht sich tatsächlich aus - durch die rasanten Bildfolgen, mit denen man im Stakkato-Rhythmus durch die spannende Story rast. Der Fokus bleibt meist eng, die Blicke knapp und kurz. Nur selten geben große Bilder Raum für große Momente. Auch wenn die Geschichte da und dort mehr Luft vertragen hätte - die groben Zeichnungen geben eine Menge authentischer Einblicke in die Enge des Lebens zwischen Abbruchhäusern. Vor dem chaotischen Hintergrund heben sich starke Persönlichkeiten ab - samt eindrucksvoller Tattoos, Stirnbänder, Schlaghosen und origineller Frisuren.

Manchmal wirkt die Ich-Erzählung gar etwas verherrlichend und affirmativ, die Person von Melendez, der etwa nicht unbedingt ein guter Familienvater gewesen sein dürfte, wird dabei nicht kritisch hinterfragt. Dass er mit seinen Brüdern unter dem Namen "Ghetto Brothers" auch eine Band gründete und eine Platte aufnahm, auf der sie Funk, Salsa und Beatles-Gesänge vermischten, wird leider nicht erwähnt - aber das wäre vermutlich wirklich eine andere Geschichte. (Karin Krichmayr, 16.6.2015)

Benjamin Melendez spricht bei 8 Million Storys über die Ghetto Brothers, seine Musik und die South Bronx.
Andreas Vingaard