Die Flüchtlinge leben in Zeltstädten ohne Strom. Dennoch hat sich eine "Ökonomie der Not" herausgebildet, berichtet Ethnologin Reiners.

Foto: Carole Reckinger

Zur Zeit der Orangenernte ist es sehr feucht in Rosarno, viele können sich keine Regenbekleidung leisten. Die Kleidung der Erntehelfer trocknet über Nacht kaum.

Foto: Carole Reckinger

Volle Boote, erschöpfte Menschen, Schiffskatastrophen: Diese Bilder dominieren die öffentliche Wahrnehmung über die Flüchtlinge im Mittelmeer. Doch was passiert mit den Menschen, denen die Flucht gelingt? Die Ethnologin Diana Reiners von der Universität Innsbruck wollte mehr darüber erfahren. Gemeinsam mit dem Innsbrucker Kulturanthropologen Gilles Reckinger erforscht sie seit 2010 die Lebensbedingungen afrikanischer Migranten in Italien. Von 2009 bis 2011 haben die zwei Wissenschafter bereits eine Studie in Lampedusa durchgeführt, aus der Reckingers Buch "Lampedusa, Begegnungen am Rande Europas" hervorging. Die meisten männlichen Flüchtlinge werden in den Süden verlegt, berichtet Reiners. Die Männer leben dort unter menschenunwürdigen Bedingungen und arbeiten um einen Hungerlohn auf Obst- und Gemüseplantagen.

STANDARD: Sie begannen Ihre Erforschung der Lebensweise der männlichen Erntehelfer 2012. Was wartet auf die Menschen auf dem Festland?

Reiners: Es findet eine gender- und arbeitsmarktspezifische Selektion statt. Die Männer arbeiten auf Gemüse- und Obstplantagen im Süden Italiens. Frauen kommen eher in norditalienische Flüchtlingslager. In den großen Städten gibt es für sie Arbeitsplätze in der Reinigung oder Altenpflege. Und viele Frauen landen auch in der Prostitution.

STANDARD: Aus Ihrer Forschung ging die Wanderausstellung "Bitter Oranges" hervor. Wie ist die Arbeit auf den Orangenplantagen?

Reiners: Die Orangenernte ist harte Arbeit. In Rosarno ist es im Winter sehr feucht. Viele können sich kein Regengewand leisten und sind den ganzen Tag durchnässt. Das Gewand trocknet in der Nacht nicht.

STANDARD: Unter welchen Bedingungen leben die Männer?

Reiners: Sie leben in Slums außerhalb der Dörfer. Das italienische System der Flüchtlingsaufnahme hat zu wenig Kapazitäten. Es gibt nur 13 Zentren in ganz Italien. Von Oktober 2013 bis Oktober 2014 sind im Zuge von Mare Nostrum 170.000 Menschen angekommen. Das war bislang die größte Zahl an Geretteten. Die Leute werden schnell weggeschickt.

STANDARD: Wie viele Plätze in Flüchtlingsheimen gibt es konkret?

Reiners: Laut Migrationsbericht Italiens für 2014 gibt es nur 3:000 Plätze in Flüchtlingsheimen in Italien. Bis 2016 sollen die Plätze auf 20.000 ausgebaut werden.

STANDARD: Welchen Aufenthaltsstatus haben die Menschen?

Reiners: Es gibt drei Gruppen: Erstens gibt es Asylwerbende, die während des Verfahrens keine Unterkunft, Verpflegung und kein Geld bekommen. Dann gibt es anerkannte Flüchtlinge. Die dritte Gruppe sind sogenannte Illegalisierte, die im Asylverfahren abgewiesen wurden. Italien schiebt nur rund die Hälfte davon tatsächlich ab.

STANDARD: Es gab Berichte über rassistische Übergriffe in Dörfern wie Rosarno. Was haben Sie erfahren?

Reiners: 2010 gab es in Rosarno einen Aufstand der Erntearbeiter gegen ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das endete in einem Pogrom, rund 2:000 Arbeiter wurden von den Einheimischen vertrieben, derStandard.at berichtete. Die Folge war, dass die Lokalpolitik sich entschlossen hat, die stillgelegten Fabriken abzureißen. Davor haben die Migranten darin – unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen – gelebt.

STANDARD: Die Arbeitslosigkeit in der Region ist hoch. Aber geht es in dem Konflikt tatsächlich um Arbeitsplätze?

Reiners: Der saisonale Markt der Orangenernte wird schon seit 20 Jahren nicht mehr von Einheimischen getragen, da sie nicht mehr für eine derart geringe Bezahlung arbeiten. Die Tagelöhner werden nach Kisten bezahlt: Sie bekommen rund 50 Cent für eine 22 Kilogramm schwere Kiste. Realistisch ist es, an einem Tag bis zu 50 Kisten zu füllen. Damit verdienen sie 25 Euro. Aber für den Transport muss man an einen sogenannten Capo noch fünf Euro pro Tag bezahlen. Die Männer stehen jeden Morgen am Arbeitsstrich und warten, ob sie mitgenommen werden. Niemand verdient mehr als 330 Euro im Monat, weil es einfach nicht jeden Tag die Möglichkeit zur Arbeit gibt.

STANDARD: Wer sind diese Capos?

Reiners: Die Capos sind meist aufgestiegene Migranten. Die Bauern sparen sich dadurch den direkten Kontakt mit den Arbeitern und überlassen den Capos alles: von der Auswahl der Arbeiter bis zur Lohnauszahlung. Dadurch entsteht oft ein sehr subjektives System. Es kommt auch vor, dass Lohn geraubt wird.

STANDARD: Woher kamen die Flüchtlinge, die Sie auf den Orangenplantagen angetroffen haben?

Reiners: Die Männer in Rosarno sind eigentlich allesamt in Libyen Gastarbeiter gewesen. Sie kamen aus Ländern der Südsahara aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen in nordafrikanische Staaten. Dort haben sie als Gastarbeiter ihren Unterhalt verdient: mit Verträgen, Wohnungen und geregeltem Leben. Als die Bombardierung angefangen hat, haben oft ihre Arbeitgeber die Überfahrt gezahlt, damit sie sich in Sicherheit bringen können. Die wohlhabenderen Libyer haben sich auf andere Art gerettet.

STANDARD: Sie haben die Zeltstädte außerhalb der Dörfer angesprochen. Gibt es eine Infrastruktur?

Reiners: Die Leute haben nach dem Pogrom und dem Abriss der stillgelegten Fabriken wieder kommen müssen, weil es zwischen November und Februar keine andere Arbeit gibt als die Orangenernte. Es gab jedoch keine Unterkunftsmöglichkeit mehr. Es wurde mit einem Notstandsbudget ein kleines Containerdorf errichtet, das nur 200 Personen Platz bietet. Es liegt fünf Kilometer außerhalb der Stadt, um rassistische Übergriffe durch die Bevölkerung zu vermeiden. Die Zeltstadt, in der wir hauptsächlich geforscht haben, besteht aus 64 blauen Katastrophenschutzzelten. Weil die Kapazitäten nicht ausreichen, haben sich dazwischen und daneben Slums entwickelt.

STANDARD: Gibt es Strom und sanitäre Anlagen?

Reiners: Es war eine Stromversorgung vorgesehen. Nachdem das Budget erschöpft war, wurden sie aber nicht angeschlossen. Für 500 Menschen gibt es vier Sanitärcontainer mit fließendem Wasser.

STANDARD: Wie kann man sich unter solchen Bedingungen seine Zuversicht bewahren?

Reiners: Es hat sich eine Ökonomie der Not herausgebildet. Manche verkaufen warmes Wasser, das den ganzen Tag über Feuer erwärmt wurde. Es gibt eine Handyladestation, einen Friseur. Alle versuchen, ihr schmales Einkommen irgendwie aufzubessern. Dadurch entsteht auch eine strukturelle Solidarität. Die Männer sorgen zudem für extreme Sauberkeit und Hygiene. Obwohl es seit Jahren keine Müllabfuhr gibt, riecht es nicht nach Abfällen. Sie werden am Rande des Zeltlagers gesammelt. Auch in den Zelten ist es aufgeräumt. Die Männer gehen mit den wenigen Dingen, die sie besitzen, sorgsam um. Keiner dieser Männer hat jemals unter solchen Bedingungen leben müssen.

STANDARD: Was wäre notwendig, um die Ausbeutungskette zu durchbrechen?

Reiners: Es stehen große Getränkekonzerne dahinter, dass der Marktpreis für ein Kilogramm Orangen auf 16 Cent bleibt. Die Bauern sind also nicht die einzig Schuldigen. Die Logik der Gewinnmaximierung ist das Problem, sie schafft an den unteren Rändern des Arbeitsmarktes solche desaströsen Verhältnisse. Wir Konsumenten müssen sensibilisiert werden, wie unsere Lebensmittel hergestellt werden. Dann müssen die Migranten vielleicht irgendwann nicht mehr so leben. (Julia Schilly, 2.6.2015)