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Çan Dündar musste wegen seinen Äußerungen zu den Gezi-Protesten einst die liberale Tageszeitung "Milliyet" verlassen. Jetzt droht ihm eine Rekord-Haftstrafe wegen der jüngsten Enthüllungen rund um einen Waffentransport nach Syrien.

Foto: AP/Arik

Er werde ihn nicht straflos davonkommen lassen, drohte der türkische Staatschef Tayyip Erdogan einem der bekanntesten Journalisten des Landes live in einem Fernsehinterview am vergangenen Sonntag. Zwei Tage später hatte Çan Dündar, neuer Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", seine Strafanzeige: Zweimal lebenslang und 42 Jahre Gefängnis fordert Erdogans Rechtsanwalt gegenüber der Staatsanwaltschaft für die Veröffentlichung eines Videos, das den Transport von Munition ins Kriegsgebiet nach Syrien durch den türkischen Geheimdienst zeigt.

Berichtsverbot für Medien

Dündar hatte vergangenen Freitag die Bilder online und in der Druckausgabe von "Cumhuriyet" veröffentlicht, was sogleich Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Ankara und ein Berichtsverbot für andere Medien in der Türkei nach sich zog. Dem 53-Jährigen werden nun Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen – es handelt sich nach Auslegung von Justiz und Regierung um die Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen –, Geheimnisverrat und Angriff auf die nationale Sicherheit.

Bei dem Munitionstransport geht es um einen bekannten Vorfall: Am 19. Jänner 2014 stoppten Gendarmen auf einer Schnellstraße außerhalb von Adana sieben Lastwägen. Die waren vom türkischen Geheimdienst MIT gemietet worden und wurden auch von einem Pkw mit MIT-Agenten begleitet. Die Gendarmen – sie gehören der türkischen Armee an – hatten einen Tipp erhalten und gingen zuerst von einem Drogentransport aus. Die Fahrtrichtung stimmte allerdings nicht: Der Transport war auf dem Weg nach Osten, zur syrischen Grenze.

Dass die Gendarmen auf den Lastwägen Munition in Stahlcontainern fanden, wurde sogleich bekannt. Fotos gab es allerdings nicht, nur die kolportierten Aussagen der Gendarmen und der ermittelnden Staatsanwaltschaft, die den Auftrag zur Durchsuchung gegeben hatte. Der Staatsanwalt wurde später abgelöst und der Fall auf Anordnung des Justizministers neu untersucht. 17 beteiligte Gendarmen wurden im vergangenen April verhaftet.

Aufnahmen möglicherweise von Gendarmen

In Dündars Video, das nun knapp eine Woche vor der Parlamentswahl am 7. Juni ans Licht kam, sieht man, wie die Beamten die Container öffnen und Gewehrmunition sowie Artilleriegeschoße finden. Die Aufnahmen stammen wahrscheinlich von den Gendarmen selbst und konnten mehr als ein Jahr lang dem Zugriff der Regierung und des Geheimdiensts entzogen werden. Die türkische Regierung und Staatspräsident Erdogan erklärten, die "logistische Hilfe" sei für die Turkmenen in Syrien bestimmt gewesen. Diese gaben nun an, sie hätten ohne die Waffen nicht dem Angriff der syrischen Regierungstruppen und der Miliz des "Islamischen Staats" standhalten können. Wer tatsächlich die Waffen erhielt, ist aber noch unklar. Die US-Regierung warf dem türkischen Geheimdienst vor, die Islamisten in Syrien aufzurüsten. Türkische Medien berichteten bereits über Waffentransporte am 7. November 2013 und am 1. Jänner 2014.

Fatih Şahin

Çan Dündar war lange Jahre Kolumnist der liberalen Tageszeitung "Milliyet" und musste im August 2013 auf Druck der Regierung wegen seiner Äußerungen über die Gezi-Proteste die Zeitung verlassen. Er schrieb fortan für "Cumhuriyet", das Traditionsblatt der Kemalisten und mittlerweile wieder die wichtigste Oppositionszeitung in der Türkei. Die Drohungen gegen den Journalisten durch den Staatspräsidenten und die nun begonnene strafrechtliche Verfolgung dürften kommende Woche im Europaparlament zur Sprache kommen. Dort soll über den bereits mehrmals vertagten jährlichen Bericht über den EU-Kandidaten Türkei abgestimmt werden. (Markus Bernath, 3.6.2015)