Husan M. hofft, dass er eine Fingerprothese erhalten kann.

Foto: Matthias Cremer

Es ist das Jahr 2013, an einem frühen Abend in der syrischen Kleinstadt al-Bab, damals schon in der Gewalt der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Husam M., 13 Jahre alt, wartet auf der Straße auf einen Freund. Der verspätet sich. M. raucht sich eine Zigarette an. "Da biegt ein Wagen mit IS-Leuten um die Ecke. Sie stoppen, kommen auf mich zu, werfen mir einen Sack über den Kopf", erzählt der Bub.

Die IS-Männer zerren M. in den Wagen, fahren los. Nach fünf Minuten zerren sie ihn wieder heraus. Stimmengewirr, ein belebter Ort: "Ein Mann sagt: ‚Jeder, der raucht, wird das hier erleiden.‘ Und dann haben sie mir drei Finger abgeschnitten", schildert M..

Hilfe von Passanten

Passanten hätten ihm, als der IS-Wagen verschwunden war, den Sack vom Kopf genommen, hätten ihn nach Hause gebracht. Hätten auch die Finger geborgen. Sein Vater, ein Bauarbeiter, habe ihn in der nahen Türkei ins Spital gebracht. Doch trotz vier Operationen seien zwei der drei angenähten Finger abgestorben.

Die öffentliche Verstümmelung gab für den Buben den Ausschlag: Er entschied sich, so bald wie möglich zu fliehen: "Ich hatte nur noch Angst. Die IS war überall, kontrollierte alles: Wie man über die Straße ging, ob man Musik hörte. Das war bei Peitschenhieben verboten."

Viermal gescheitert

Mit 14 Jahren überquerte er daher erneut die Grenze zur Türkei, um von dort in die EU zu gelangen. Doch viermal sei er an den bulgarischen Patrouillen gescheitert. Also habe er sich Schleppern anvertraut, die für die Fahrt nach Österreich 6500 verlangt hätten: "Das war der Kindertarif, für Erwachsene kostet es 9500 Euro." Bezahlt habe er mit seinem Ersparten: Schon mehrere Jahre habe er neben der Schule auf Baustellen gearbeitet. - Eine Woche später wurde er auf dem Wiener Schwedenplatz aus einem Lkw geworfen. Es war heuer im Jänner und bitterkalt: "Ich glaubte, jetzt müsste ich erfrieren."

Inzwischen ist Juni, Sonne blitzt durch die Blätter im Garten des Georg-Danzer-Hauses: einer sozialpädagogischen Einrichtung der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, in der Husam M. mit sieben anderen unbegleiteten minderjährigen Kriegsflüchtlingen wohnt. Vor drei Wochen hat der inzwischen 15-Jährige in Österreich Asyl bekommen, ist endgültig in Sicherheit. Vater, Mutter und seine acht Geschwister haben Syrien inzwischen auch verlassen. Sie leben jetzt in der Türkei.

Familienähnliche Strukturen

Husam, sagt ein Betreuer, habe das in Syrien Erlebte "erstaunlich gut bewältigt. Er kann darüber reden." In dem nach dem Liedermacher Georg Danzer benannten Haus, in der der Bursch mit der teilrasierten Frisur lebt, wird auf psychische Kriegsfolgen besonders geschaut. Es ist eine der besten Einrichtungen ihrer Art, bietet familienähnliche Strukturen. Zwei Betreuer leben fix in der WG mit. Kein Vergleich zu M.s erstem Aufenthaltsort in Österreich: dem Lager Traiskirchen, in dem er zwei Monate verbrachte. Was Husam M. sich wünschen würde? "Meine Eltern wiedersehen. Und dass mein Freund Raschid, mit dem ich in Traiskirchen war, auch hierherkommen kann. Ja, und: zwei neue Finger, vielleicht eine Prothese", sagt er. (Irene Brickner, 5.6.2015)