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Ein neues Geschäftsviertel soll in Istanbul Investoren anlocken und die Stadt in einen der Top-Finanzplätze transformieren. Doch das große Geld bleibt aus.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

Er ist der Mann mit dem Haargel in dem Land, wo man äußerst penibel auf kurz geschnittene Frisuren achtet. "Jöleli" wird Yigit Bulut deshalb verächtlich genannt, der "Gegelte". Vor allem aber ist er der Mann mit den Großbuchstaben. Die verwendet Yigit Bulut, wenn er glaubt, dass er etwas Wichtiges schreibt, etwas, das sich der türkische Leser merken soll. UNSERE EIGENE ORDNUNG zum Beispiel, ZENTRUM TÜRKEI oder EUROPA, DER KRANKE MANN.

Denn Yigit Bulut, der Kolumnenschreiber und Ex-Fernsehmann, ist auch Berater des Präsidenten. Derjenige, dem Tayyip Erdogan sein Ohr leiht, wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, und der die Gedankenwelt des türkischen Staatschefs möbliert mit Ideen vom langsamen Tod der EU und von feindlichen Lobbys im Ausland, die versuchen, an den Börsen den Untergang der Türkei herbeizuspekulieren. Bald schon hat er freie Bahn.

Nach den Parlamentswahlen an diesem Sonntag ist Schluss mit Buluts Gegenspieler, dem einflussreichen Vizepremier und Staatsminister für die Wirtschaft, Ali Babacan. Der wird der nächsten türkischen Regierung nicht mehr angehören. Eine Regel im Statut der regierenden konservativ-islamischen AKP besagt, dass Parteimitglieder nicht für mehr als drei aufeinanderfolgende Amtszeiten gewählt werden dürfen, Minister haben in der Türkei üblicherweise ein Parlamentsmandat. Die beiden vergangenen Jahre im Kabinett hat Ali Babacan damit verbracht, den Erdogan-Berater Bulut in Schach zu halten. Bulut ist der Schrecken der Märkte und Investoren, Babacan aber ihr Vertrauensmann.

Kein Nachfolger in Sicht

"Babacans Wirtschaftssteuerung, sein Respekt für Regeln und Grundsätze, hat die Türkei im ersten Jahrzehnt nach 2000 zu einer Erfolgsstory gemacht", sagt Güven Sak, Chef des Wirtschafts-Thinktank Tepav in Ankara. "Ich sehe keinen überzeugenden Kandidaten, der in seine Fußstapfen treten könnte."

Was Sak kommen sieht, ist ein fortschreitender Verlust des Vertrauens in die türkische Wirtschaft und in die politische Führung, sollte es Erdogan gelingen, nach diesen Wahlen die Verfassung umzuschreiben. UNSERE EIGENE ORDNUNG nennt das Yigit Bulut beschwörend, ein Präsidialsystem ohne Regierungschef, maßgeschneidert für Tayyip Erdogans Machtwillen: die neue Türkei.

Erdogan werde dann mehr von seinen Vertrauensleuten in den Justizapparat platzieren, sagt Güven Sak voraus. Ausgaben nach eigenem Ermessen aus Staatskassen ohne Kontrolle, wie beim Milliardenbau für Erdogans Präsidentenpalast, würden zunehmen und längerfristig zu einem Schuldenproblem werden. "Investoren müssten unter diesen Umständen umschalten von einem Land, in dem Gesetze zählen, zu einem Land, in dem Beziehungen zählen. Sie müssten weniger Anwälte engagieren und mehr mit Politikern reden", sagt Sak, als ob es nicht jetzt schon Praxis wäre. Der Korruptionsskandal, der im Dezember 2013 die türkische Regierung erschütterte, brachte auch einmal mehr die engen Verbindungen zwischen der Politik und den großen Industriegruppen des Landes zutage, die Bauaufträge und Konzessionen erhalten und ihre Nachrichtensender und Tageszeitungen wohlwollend über das Tun der Regierung berichten lassen.

Der türkischen Wirtschaft, der großen Wundermaschine der Ära Erdogan, die seit 2002 Wohlstand und Wahlsiege produzierte, geht es dabei längst nicht mehr so gut. Als der Kilopreis für Kartoffeln im April plötzlich auf fünf Lira stieg, umgerechnet 1,67 Euro, stand Tayyip Erdogan, der fromme Präsident mit den Luxuslimousinen und dem Protzpalast, mitten in einer Debatte um Wirtschaft und Gerechtigkeit. Das Wachstum ist langsam geworden, vorbei sind die Jahre mit acht oder zehn Prozent plus. 2014 fiel die Wachstumsrate auf 2,9 Prozent, dieses Jahr erwartet die OECD 3,1. Die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit steht mit elf Prozent auf ihrem höchsten Wert seit fünf Jahren. Die türkische Lira hat innerhalb eines Jahres ein Drittel ihres Werts gegenüber Dollar und Euro verloren, nicht zuletzt wegen der dauernden Angriffe Erdogans auf die Zentralbank. Erdogan verlangt eine Senkung der Leitzinsen, was - zumindest seiner Ansicht nach - Produktion und Konsum ankurbeln und die Inflation eindämmen würde.

Anleger wenden sich ab

Yigit Bulut sekundierte dem Präsidenten bei seinem Feldzug gegen die Unabhängigkeit der Notenbank, ebenso wie Nihat Zeybekci, der Wirtschaftsminister, während der ihm übergeordnete Babacan dagegenhielt. Internationale Investoren aber haben der politischen Unwägbarkeiten wegen in den Monaten vor der Wahl türkische Anleihen abgestoßen und sind dafür wieder auf den russischen Markt gegangen. Vor allem wegen ihrer Kapitalabhängigkeit gilt die Türkei als das am leichtesten verletzbare Land unter den "aufstrebenden Volkswirtschaften".

Doch die Probleme liegen noch viel tiefer. Güven Sak und andere vielbeachtete Ökonomen wie Refet Gürkaynak, ein Professor an der Bilkent-Universität in Ankara, werfen der AKP eine verfehlte Politik vor: schnelles Geld statt Reformen, Investitionen in die Bauwirtschaft statt grundlegender Verbesserungen in Schulen und Universitäten, stärkeren Rechtsstaat, mehr Frauen im Berufsleben. "Die Türkei ist seit 2007 in einer wirtschaftspolitischen Leere", sagt Refet Gürkaynak.

Die globale Finanzkrise von 2008 hat das noch eine Zeitlang überdeckt, doch mittlerweile sind die Mängel offenkundig, sagt Gürkaynak, ein häufiger Gast in Fernsehrunden. "Diese Kombination von niedrigem Produktionspotenzial - wegen fehlender Reformen - und hoher Konsumnachfrage hat zu einem riesigen Handelsbilanzdefizit und hoher Inflation geführt, ohne aber neues Wachstum zu schaffen."

Der "Erdogan-Ballon" ist so gesehen geplatzt, die politischen Alternativen aber sind für Unternehmer und Anleger nicht wirklich anziehender. Nilüfer Sezgin, leitende Volkswirtin bei der Erste Group in Istanbul, hat einen "Szenarienbaum" aufgezeichnet. Ihre Schlussfolgerung: Einen Wahlausgang am Sonntag, bei dem die neue Kurden- und Linkspartei HDP (sie tritt an die Stelle der BDP) den Einzug ins Parlament schafft und der AKP so viele Sitze abnimmt, dass eine Koalition zum Regieren gesucht werden muss, fänden die Märkte sehr negativ; ein Wahlsieg der AKP dagegen, der so groß ausfällt, dass es weiter bequem zum Alleinregieren reicht, nicht aber zur Änderung des parlamentarischen Verfassungssystems, würde sehr positiv aufgenommen werden. Die Wirtschaft will einen "gezähmten Erdogan".

Mord durch Telekinese

Einfacher wird es deshalb nicht. Bleibt die Türkei bei der alten Verfassung, muss ihr autoritärer Staatschef weiter einen Premier regieren lassen. Die Spielwiese für Irrationales behält er. Es gäbe Kräfte im Ausland, die Erdogan durch Telekinese umbringen wollen, hatte Yigit Bulut im Sommer vor zwei Jahren, während der Gezi-Proteste, im türkischen Abendfernsehen erklärt. Das sei offensichtlich. Erdogan muss das auch eingeleuchtet haben. Er machte Bulut noch im selben Monat zu seinem Wirtschaftsberater. (Markus Bernath aus Istanbul, 6.6.2015)