Diplomatisches Idyll im Jahre 1895 an Bord der Korvette Aurora im japanischen Yokohama. Inmitten von Offizieren und Diplomaten: der österreichisch-ungarische Gesandte Heinrich Coudenhove-Kalergi und seine Frau Mitsuko. Das politische Programm von Sohn Richard sollte in Europa, aber auch in Japan Spuren hinterlassen.

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Yukio Hatoyama wandte sich von den USA ab und der panasiatischen Idee zu.

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Sein Vorbild: der in Japan geborene Richard Coudenhove-Kalergi.

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In den USA schrillten kurz nach den japanischen Parlamentswahlen im Jahr 2009 die Alarmglocken. Yukio Hatoyama, der Spitzenkandidat der Demokraten, hatte einen furiosen Wahlsieg eingefahren, nun stellte der neue Premierminister kurzerhand die Außenpolitik des Landes auf den Kopf. Nichts weniger als den gesamten, zumindest teilweisen Abzug amerikanischer Truppen von Okinawa forderte der damals 62-Jährige.

Ein Jahr darauf lud er eine hochrangige chinesische Delegation unter Führung des späteren Staatspräsidenten Xi Jinping nach Tokio, deren Besuch - ganz im Gegensatz zur bisherigen Politik Japans gegenüber der neuen Großmacht - höchste Aufmerksamkeit erfuhr. Im Weißen Haus in Washington fürchtete man, Hatoyama wolle sich von den USA abwenden. Der neue Stil in der japanischen Außenpolitik war nichts weniger als der Versuch des Premiers, eine politische Idee zu verwirklichen, die ihn seit langem umtrieb: die Gründung einer panasiatischen Bewegung, das Zusammenleben egalitärer und brüderlich verbundener, aber zugleich unabhängiger Staaten.

Ein politisches Leitbild, das Hatoyama ausgerechnet einem Österreicher und dessen Werk zu verdanken hat: Richard Coudenhove-Kalergi, dem Begründer der Paneuropa-Bewegung. Doch die Verbindungen zwischen Japan und Österreich reichen noch viel tiefer.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1892 gewissermaßen wie im Hollywoodkino oder in der Oper. Der als österreichischer Gesandter in Japan dienende Diplomat Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi fiel in Tokio vom Pferd, Mitsuko, die Tochter des Öl- und Antiquitätenhändlers Aoyama, bei dem Coudenhove ein Kunde war, half ihm wieder auf die Beine. Daraus wurde eine Liebesgeschichte, die aber nicht im Unglück endete wie Giacomo Puccinis Oper Madama Butterfly. Graf Coudenhove-Kalergi lässt seine Geliebte Mitsuko nicht sitzen wie der amerikanische Diplomat Pinkerton seine Butterfly, vielmehr heiratet er die Angebetete. Noch in Tokio werden zwei Kinder geboren, als zweiter Sohn im Jahr 1894 Richard, dessen japanischer Vorname Eijiro lautete. Er gründete später die Paneuropa-Bewegung, und seine Ideen wurden für die politischen Vorstellungen Yukio Hatoyamas wie zuvor für seinen Großvater Ichiro wegweisend.

Überzeugter Pazifist

1896 übersiedelte die Familie Coudenhove-Kalergi auf das böhmische Familiengut Ronsberg, wo Heinrich die elterlichen Besitzungen verwalten musste. Mitsuko wurde vom Kaiser persönlich mit dem Auftrag verabschiedet, Japan in Österreich würdig zu vertreten.

Nach seinem Studium der Philosophie und Geschichte hatte Richard Coudenhove-Kalergi 1924 die Zeitschrift Pan-Europa und die Paneuropa-Union gegründet. Nicht zuletzt aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs war er ein überzeugter Pazifist geworden, der ein vereintes Europa anstrebte, in dem die einzelnen Länder aber als gleichberechtigte Partner bestehen bleiben und ihre jeweilige nationale Eigenheiten bewahren sollten.

In Wien begegnete Coudenhove-Kalergi dem japanischen Diplomaten Morinosuke Kajima, der in Berlin als Diplomat akkreditiert war. Die zwei Männer wurden Freunde. Kajima war fasziniert von der Idee eines friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Nationen in einem vereinten Europa, und Coudenhove-Kalergi schlug ihm vor, in Asien für ein Pan-Asia nach dem Modell eines Paneuropa zu arbeiten.

Nach seiner Rückkehr nach Japan veröffentlichte Kajima Coudenhove-Kalergis Buch Pan-Europa, das er übersetzt hatte. Bereits im Jahr 1926 hatte er in seinem Buch Pan-Asia Movement and Pan-Europa Movement seine Überlegungen zur Übernahme des Coudenhove-Kalergi'-schen Paneuropa-Konzepts auf Asien dargelegt. Er schied aus dem diplomatischen Dienst aus, um sich ganz der Pan-Asia-Bewegung widmen zu können.

1946 erhielt Ichiro Hatoyama, der Großvater des späteren Premiers Yukio Hatoyama, die englische Ausgabe von Coudenhove-Kalergis Buch Totaler Mensch - Totaler Staat und war so begeistert von dem Buch, dass er es ins Japanische übersetzte. Ichiro, der von 1954 bis 1956 japanischer Premierminister gewesen war, hatte auf der Basis von Coudenhove-Kalergis politischer Ethik vor etwa 60 Jahren die Yuai-Bewegung gegründet.

Ichro Hatoyama strebte ein unabhängiges, nicht einseitig an die USA gebundenes Japan an. Japan sollte vielmehr mit vielen Ländern gute Beziehungen auf der Basis von Gleichberechtigung anstreben. So war er auch um gute Beziehungen mit der Sowjetunion bemüht an und reiste zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen nach Moskau.

Die Yuai-Philosophie und damit das panasiatische Ideengebilde übernahm Jahrzehnte später sein Enkel Yukio, der es zu seiner außenpolitischen Maxime ausbaute. Im Zentrum stehe, so Hatoyama im Gespräch mit dem STANDARD, die solidarische Beziehung unabhängiger und freier Menschen, denen jede nationale Beschränktheit fremd ist.

Bevor er 2009 Premierminister wurde, legte er in einem Aufsatz der Zeitschrift Voice seine Vorstellungen einer East Asian Community dar und nannte dabei Richard Coudenhove-Kalergi ausdrücklich als den Ideengeber für sein Modell einer Ostasiatischen Gemeinschaft gleicher und freier in brüderlichem Verhältnis zueinander stehender Staaten.

Dass Yukio Hatoyama außenpolitsch eine stärkere Hinwendung zu Asien anstrebte und Japans Abhängigkeit von den USA überwinden wollte, war allgemein bekannt. Sein Konzept einer East Asian Community traf aber weder in Japan noch in den Nachbarländern Südkorea und China auf große Resonanz. Dieses politische Konzept wirkte wie eine Idee von einem anderen Stern, auch wenn Coudenhove-Kalergi seinem Freund Kajima schon in den 20er-Jahren die Übertragung des Konzepts eines Paneuropa auf Asien empfohlen hatte.

Fatale Abschottung

Im Gespräch mit dem STANDARD gibt Hatoyama zu erkennen, dass ihm heute durchaus bewusst ist, wie weit Ostasien von der Verwirklichung einer East Asian Community entfernt ist. Im Gegensatz zu Europa waren die asiatischen Staaten jahrhundertelang weitgehend voneinander abgeschottet. Der Abschottung folgte der grausame Versuch der Kolonisierung weiter Teile Asiens durch die japanische imperiale Armee. Der tiefgehende Nationalismus in China und Südkorea ist auch Resultat dieser Demütigung durch Japan zu sehen. Zugleich sind Chinas Bestrebungen, zum Hegemon Asiens zu werden, mit Hatoyamas Vision einer East Asian Community, einer Gemeinschaft gleicher, freier und brüderlicher Staaten, nicht zu vereinbaren.

Yukio Hatoyama musste politisch scheitern, weil es weder in Japan noch in den Nachbarländern ein Bewusstsein für Notwendigkeit einer East Asian Community gab und gibt. Im Gespräch mit dem STANDARD nennt er die East Asian Community jetzt ein Langzeitprojekt. Nicht nur wegen des Erhalts dubioser Spenden musste er zurücktreten, sondern weil er hartnäckig an die unmittelbare politische Umsetzung seiner Ideen glaubte.

Richard Coudenhove-Kalergi war kein Politiker. Der Onkel der österreichischen Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi hatte politische Ideen, für die er unablässig in Büchern und Gesprächen mit Politikern warb. So gelang es ihm in einem Europa, das für die Idee einer europäischen Gemeinschaft empfänglich war, ein öffentliches Bewusstsein für ein vereintes Europa zu schaffen. Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik scheint Yukio Hatoyama nun in ähnlicher Weise als Ideengeber und Initiator wirken zu wollen. Aber die Chancen für die Schaffung einer Vereinigung unabhängiger, freier und gleicher Staaten sind in Asien ungleich schlechter als in Europa.

Nach Japan, in das Land seiner Kindheit, kehrte Coudenhove- Kalergi noch zweimal, 1967 und 1970, zurück. Eingeladen von seinem Freund Kajima und Hatoyamas Yuai-Vereinigung, hielt er Vorträge zu seiner politischen Philosophie, wurde mit Orden ausgezeichnet und vom japanischen Kaiserpaar empfangen als der Sohn jener jungen Frau, die einst vom Kaiser den Auftrag erhalten hatte, Japan in Österreich Ehre zu machen. (Siegfried Knittel aus Tokio, 7.6.2015)